Das Banner des Roten Adlers
hervorkamen. Jim kehrte um, kletterte
an dem umgekippten Wagen entlang, bis er eine Tür fand.
Er drückte die Klinke, riss die Tür auf und rief: »Becky! Becky! Wo bist du?«
Aus der Dunkelheit antwortete ihm eine leise Stimme: »Schrei nicht. Ich glaube, ich
habe mir den Arm oder ein paar Rippen gebrochen. Vielleicht auch das Schlüsselbein, ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht bewegen.«
Er glitt in die Dunkelheit und tastete an ihrem freien Arm bis zu ihren Hüften hinab.
Sie war unter dem oberen Klappbett eingeklemmt, dessen Haltegurte gerissen
waren. Er stemmte es hoch und fragte sie, ob sie sich nun bewegen könne.
Sie versuchte es, schrie auf vor Schmerz und versuchte es nochmals, während er das
Bett stemmte. Als sie frei war, ließ er es fallen. »Hast du deine Schuhe an?« »Nein
...«
»Die brauchst du aber.«
Er tastete herum, bis er sie gefunden hatte, warf sie durch die offene Tür über ihm
und legte ihr dann die Hände um die Taille, um sie nach draußen zu heben. Sie
wurde ohnmächtig.
Das
erleichterte ihm
die Arbeit.
Er
fühlte,
wie sich
ihre
gebrochenen Rippen an ihm rieben, doch er schob sie unerbittlich weiter nach oben,
bis ihr ganzer Körper aus der Tür war. Dann kletterte er über sie hinweg und zog sie
ins Freie. Unterdessen waren die meisten Studenten aus dem zweiten Wagen
geklettert. Unteroffizier Kogler reichte Adelaide behutsam die Fahne, die an einem
Ende eingerissen war. Ein Zipfel des goldgelben Seidentuchs schleifte am Boden.
»Sind alle heil herausgekommen?«, fragte sie. »Michael ist tot«, sagte Gustav mit
unsicherer Stimme. »Er hat sich das Genick gebrochen ...« Hinter ihm trugen zwei
andere den toten Studenten. Sie legten ihn unter die Bäume und bedeckten ihn mit
einem Tuch. Jim legte Gustav tröstend eine Hand auf die Schulter.
»Wo ist Willi?«, fragte Karl. »Ist er immer noch im Führerstand?«
Sie schauten an den verbogenen Gleisen entlang. Der Schein der ausgeworfenen
glühenden Kohlen hatte etwas Unheimliches, die Silhouetten der schwarzen Bäume
glichen
einer
Theaterkulisse.
Jim,
von
Erschöpfung,
Zorn
und
Leidenschaft
gezeichnet, wäre keineswegs überrascht gewesen, wenn Henry Irving wie in dem
Stück Die Glocken mit seinem Schlitten aufgetaucht wäre oder wenn wie in Die
korsischen Brüder gemalte Bäume aus der Kulisse getreten wären und den Blick auf
den im Duell verwundeten Louis dei Franchi freigegeben hätten.
»Mach dich aufs Schlimmste gefasst«, sagte er zu Karl. »Willi ist nirgends zu sehen.
Und der Soldat auch nicht, wie hieß er doch gleich ...«
»Schweigner!«, sagte der Unteroffizier. »Er war von Anfang an nicht überzeugt! Ich
hätte mit ihm in der Lok bleiben sollen ...«
»Wir
hatten
keine Zeit,
an
alles
zu
denken
und
alles
richtig
zu
machen«,
entschuldigte ihn Jim. »Holt jetzt schnell alles, was ihr noch braucht, aus dem Zug.«
Wie um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen, loderte plötzlich eine Flamme
fauchend hinter ihnen auf: Das aus
dem Tank ausströmende Gas hatte Feuer
gefangen und der Druck der Explosion alle Umstehenden umgeworfen.
Während zwei Studenten in den Wagen zurückkletterten, um ihre Waffen zu holen,
erkundigte sich Jim bei dem Unteroffizier, wo sie sich ungefähr befänden.
»Nur noch ein paar Kilometer von Andersbad entfernt. Schauen Sie, da ist eine
Streckenangabe.« An einem Baumstamm hing ein Blechschild in den verblassten
Farben
der
raskawischen
Eisenbahngesellschaft.
Die
Augen
mit
der
Hand
abschirmend, schaute Jim an der brennenden Lokomotive vorbei
und sah
nur
Kolonnen dunkler Tannen in der Dunkelheit verschwinden.
»Wir können nicht mehr weit von der Burg sein«, sagte er zu niemand Bestimmtem.
»Die Burg ist dort oben auf dem Berg«, sagte eine schwache Stimme unter ihm. Es
war Becky, die auf einem Baumstumpf saß und sich die Seite hielt. »Wenn es so nah
ist, gehen wir doch geradewegs hin«, sagte Adelaide. »Wir müssen die Fahne
aufpflanzen -« Sie hielt inne, denn sie hatte dasselbe Geräusch gehört wie alle
anderen auch: das ferne Stampfen einer Dampflokomotive, die aus der Richtung der
Hauptstadt herankam. Die Nacht war still und das Geräusch noch weit entfernt, aber
es war nicht zu überhören. »Wir haben keine andere Wahl«, schloss Jim. »Wir
müssen gleich da hinauf.«
»Und was wird aus Fräulein Winter?«, fragte Karl. Becky saß still da. Jim sah Tränen
in ihrem Gesicht glänzen.
»Kannst du nicht gehen?«, fragte er mitfühlend.
Sie schüttelte den Kopf.
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