Das Banner des Roten Adlers
Ereignisse der vergangenen Nacht. Als er mit seiner Erzählung fertig war,
pfiff der Wasserkessel. Karl tappte barfuß über den kalten Boden und holte zwei
Tassen.
»Leopold?«, fragte er ungläubig. »Bist du dir sicher? Das scheint unmöglich.«
»Ich
habe ihn
mit
eigenen
Augen
gesehen
und
die
spanische
Schauspielerin
ebenfalls. Außerdem hat es mir die alte Frau bestätigt. Es stimmt.« »Aber ... warum?
Cui bono? Wer gewinnt dabei, ihn die ganze Zeit gefangen zu halten? Jedenfalls
nicht die königliche Familie.«
»Nein. Ich glaube nicht, dass der alte König überhaupt etwas davon wusste. Das war
von vorne bis hinten Gö-dels Plan. Er hat Leopold als Trumpfkarte im Ärmel behalten, um ihn zum passenden Zeitpunkt als Herrscher wieder ins Spiel zu bringen.
Erinnerst du dich noch an die Keilerei im Bierkeller an dem Abend, als wir uns zum
ersten Mal begegnet sind? Dieser Glatz schwadronierte in einem fort über Leopold.
Ich
habe
den
Eindruck,
die
Verbundenheit
mit
den
Blutsverwandten
des
Herrscherhauses ist hier noch groß, vor allem in den alten Vierteln. Gödel hat darauf
sein Süppchen kochen wollen und deshalb Leopold aus der Anstalt in Neustadt
hierher gebracht, um ihn jederzeit bereitzuhaben ...« »Hast du das Graf Thalgau
mitgeteilt?«
»Nein,
der
führt
selbst
was
im
Schilde.«
Jim
erwähnte Beckys
Entdeckung und ging ans Fenster, um einen Blick auf die Stadt zu werfen. Der Sturm
der vergangenen Nacht hatte die Wolken vertrieben, die Luft war frisch. Im Osten
verblassten die Sterne, während die heraufkommende Morgenröte den Himmel
erhellte. »Wir haben jetzt zwei Aufgaben zu erledigen«, fuhr Jim fort. »Wir müssen
Prinz Leopold retten, zu seinem eigenen Heil und um Gödel einen Strich durch die
Rechnung
zu
machen.
Und
wir
müssen
diese Spanierin
finden.
Beides
muss
geschehen, ohne dass der Graf etwas davon erfährt. Kennst du einen Ort in der
Altstadt, der den Namen Paracelsus trägt?«
Adelaide war schon früh wach. Kribbelig lag sie unter der Decke und streichelte mit
einer Hand die kleine schwarze Katze, die neben ihr schlief. In Gedanken war sie
schon
dabei,
den
deutschen
und
österreichischen
Unterhändlern
ihre Pläne
vorzustellen. Sie fühlte sich im Mittelpunkt brodelnden Lebens, während um sie
herum die Stadt erwachte. Ihr war, als könnte sie alle ihre Untertanen sehen:
Diener, die noch gähnend Feuer in den kalten Küchen entfachten; Bäcker, die mit
ihren
langen
Schiebern
das
dampfende
knusprige Brot
aus
dem
Ofen
holten;
Bauern, die den Kühen an den Melkständen sanft auf die Flanken schlugen; Mönche
der Abtei St. Martin, die in der Frühmesse ihre Gebete murmelten. Alle waren sie
nacheinander aufgewacht, nur das Kätzchen Milchbart schlief noch.
Die Sonne ging auf und der Verkehr in den Straßen Eschtenburgs wurde dichter. In
den Kaffeehäusern eilten die Kellner mit dampfenden Kaffeekannen und warmen
Brötchen von Tisch zu Tisch. Der österreichische Unterhändler stand am offenen
Fenster, atmete tief durch und stemmte Hanteln, um seinen Kreislauf in Schwung zu
bringen, während der Vertreter des Deutsehen Reichs noch im Bett lag und sich
genüsslich überlegte, ob eine Extrasemmel zum Frühstück das Richtige wäre, um
sich für die Anforderungen des Tages zu wappnen.
In einer Wohnung im dritten Stock eines alten Stadthauses in der Glockengasse
tupfte sich ein Bediensteter des raskawischen Außenministeriums den säuberlich
gestutzten Schnurrbart mit einer weißen Serviette ab, rückte seinen Stuhl nach
hinten und ging nach einem letzten Bürstenstrich über das bereits pomadisierte
Haar in die Diele, um sich von seiner Familie zu verabschieden.
Seine Frau hielt ihm die Aktentasche und den Hut bereit; seine fünf Töchter standen
wie die Orgelpfeifen in einer Reihe und warteten auf den Abschiedskuss. »Auf
Wiedersehen, Gretl ... Inge ... Bertha ... Anna ... Marlene. Seid schön brav und
strengt euch heute wie euer Vater ganz besonders an. Auf Wiedersehen, mein
Schatz.
Heute
Abend
komme ich
etwas
später
nach
Hause,
wir
haben
einen
schweren Tag vor uns.« Die Töchter und die Gattin warteten respektvoll, während
der Vater im Spiegel die Spitzen seines Schnurrbarts zwirbelte und sich den Hut keck
auf den Kopf setzte. Dann winkte er noch einmal zum Abschied und verließ die
Wohnung. »Ade, Papa!«
Aus
der ganzen
Stadt
eilten
Verwaltungsbediensteten,
mit
Herrn
Bangemanns
Kollegen,
hurtigerem
Schritt
als
sonst
die Sekretäre und
und
mit
besonders
polierten Schuhen in das
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