Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Banner des Roten Adlers

Das Banner des Roten Adlers

Titel: Das Banner des Roten Adlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
Schloss. Dort waren die Lakaien und Hofbediensteten
schon mit dem Herrichten des Konferenzzimmers beschäftigt.
    Es lag auf der hellen Seite des Schlosses. Das einfallende Herbstlicht gab allem einen
schönen, reinlichen Goldglanz. Der Konferenztisch war mit einem grünen Tuch
bespannt. Jeder Platz - insgesamt waren es sechzehn: je fünf für Deutschland und
Österreich-Ungarn, fünf für Raskawien sowie der Platz für die Königin in der Mitte verfügte über eine Schreibunterlage, je ein Tintenfass mit schwarzer und roter Tinte,
eine Schale mit Schreibfedern und Federhaltern, eine Wasserkaraffe, ein Trinkglas
und einen Aschenbecher.
Hinter jedem Stuhl am Konferenztisch stand ein weniger bequemer Stuhl für einen
Sekretär oder Schreiber. Hinter Adelaides stand, leicht nach rechts versetzt, Beckys.
    Während
sich
die Delegierten,
begleitet
von
Sekretären
mit
Aktenstößen
und
gebundenen Gesetzestexten, im Vorzimmer versammelten, stand einen Stock höher
Königin
Adelaide in
ihrem
Empfangszimmer und
schaute angestrengt
in
einen
Handspiegel, den die Kammerfrau für sie hielt.
    »Ganz reizend«, sagte sie. »Die Herren werden Augen machen. Hier - kämm die
Strähne noch über das Ohr, Becky. Und hör auf zu gähnen! Das ist jetzt schon das
dritte Mal
in
zwei
Minuten.
Die Herren
sind
nicht
hergekommen,
um
deine
Rachenmandeln zu begutachten. Warst du die ganze Nacht auf? Du siehst verboten
aus.
Du
solltest
dich
nicht
nachts
herumtreiben,
wenn
am
nächsten
Morgen
wichtige Geschäfte auf uns warten. Wie spät ist es denn? Wie lange warten die
Herren schon? Lassen wir sie noch eine Minute warten. Fünf Minuten Verspätung
sind
für
eine Königin
gerade richtig;
vier sind
zu
wenig,
sechs
wirken
schon
verbummelt. Das will ich heute auf keinen Fall sein. Ich bring die Kerle auf Trab, du
wirst sehen. Schön, Marie-Helene, das reicht jetzt. Geh und mach die Tür auf. Wo ist
eigentlich der Graf? Ah, da kommt er ja ...« Becky runzelte streng die Stirn, um ein
weiteres Gähnen zu unterdrücken, und folgte ihr. Sie hatte nicht richtig geschlafen.
In ihren Träumen war immer wieder eine dunkelhaarige Frau aufgetaucht. In einen
Umhang gehüllt, gesichtslos, aber mit einem Dolch bewaffnet, kletterte die Frau die
Mauer des Schlosses zu einem Fenster hinauf, aber ob es Beckys oder Adelaides
Fenster war, konnte sie nicht sagen. Nach dieser Nacht hatte sie Kopfschmerzen und
gerötete Augen. Nun musste sie sich konzentrieren wie noch nie in ihrem Leben,
wenn sie Adelaide bei den Verhandlungen eine Hilfe sein wollte. Schließlich war
Adelaide dafür Königin geworden. Auf sie wartete die wichtigste Aufgabe ihres
Lebens.
    Ihre Majestät war blass, gefasst und bezaubernd. Nur ihre fest geschlossenen Lippen
und ein leichtes Zucken des Daumens verrieten ihre Anspannung, als die Lakaien
sich verbeugten und die Tür zum Konferenzzimmer öffneten.
Nun, wenn sie jemals als Königin abdanken müsste, könnte sie immer noch eine
schöne Stange Geld auf der Bühne verdienen, dachte Becky, als sie sah, wie sich gut
dreißig Augenpaare erwartungsvoll der Königin zuwandten.
    Adelaide begab sich an ihren Platz und begann mit ihrer Rede. Sie hatte alles
mühsam Wort für Wort selbst geschrieben, dann hatte Becky den Text übersetzt
und mit ihr die Aussprache gründlich geübt. Jetzt betrachtete die Lehrerin mit Stolz
ihre Schülerin: Adelaide artikulierte klar, ihr Deutsch war fehlerfrei, die Lautstärke
auf die Raumgröße abgestimmt und der feierliche Ton entsprach dem Anlass.
    »Meine Herren,
ich
wünsche Ihnen
einen
guten
Morgen
und
heiße Sie im
Konferenzzimmer meines Schlosses auf das Herzlichste willkommen. Zuerst dachte
ich, diese Gespräche im Großen Saal der Burg stattfinden zu lassen, wo Walter von
Eschten 1254 den Vertrag unterzeichnete, der die Freiheit Raskawiens garantierte.
Doch dann bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass Burgen etwas für Kriegszeiten
sind, Schlösser hingegen für Friedenszeiten. Raskawien ist nicht bedroht wie damals;
unser kleines Land existiert in anerkannten und sicheren Grenzen.«
    Sie hielt kurz inne und lächelte erwartungsvoll in die Runde und tatsächlich deuteten
das Murmeln, Kopfnicken und Fußscharren auf allgemeine Zustimmung. Wer hätte
auch
gegen
eine in
solch
unschuldige
Worte gekleidete Ansicht
irgendetwas
einwenden wollen ? Und die Ansprache war genau richtig, um mit einem Anflug von
Humor eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Becky machte sich an die Arbeit
und hatte über der Faszination,

Weitere Kostenlose Bücher