Das Banner des Roten Adlers
Ecke. Es blieben nur noch
drei Streichhölzer übrig. Jim fluchte leise und wollte schon das nächste anreißen, als
von weiter hinten im Tunnel ein Geräusch kam: das Echo einer quietschenden
großen Eisentür, gefolgt vom Geräusch schwerer Stiefel. Jemand kam hierher.
Der Prinz hatte es ebenfalls gehört und stieß leise, unartikulierte Laute aus. Jim
flüsterte: »Hören Sie, Hoheit, ich muss jetzt gehen, aber ich komme wieder! Ich hole
Sie hier heraus, ja?«
Mit der linken Hand an der Wand machte er sich so leise wie möglich davon.
Nachdem er die erste Biegung hinter sich hatte, hielt er an und schaute zurück. Ein
schwacher Lichtschein lag auf der rauen, nassen Felswand; die Schritte hatten
angehalten. Nun hörte er eine männliche Stimme, die in beinahe freundlichem
Tonfall sagte: »Na, na, nun lass das Weinen, altes Haus. Lutz ist doch wieder da. Bin
mal hochgegangen, um mir die Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen.
Was erzählst du da? Eine Flamme? Und Feuer? Nein, nein, das ist die Laterne, an der
verbrennst du dich nicht. Leg dich wieder hin und schlaf. Du willst doch nicht wach
sein, wenn Kraus seine Runde dreht ...«
Ein leiser Angstschrei, ein polterndes Lachen.
Jim horchte noch eine Weile, hörte aber nichts mehr.
Dann verließ er den Tunnel.
Eine halbe Stunde später - die Schlossuhr schlug gerade ein Uhr - öffnete er die Tür
seines
Zimmers.
Gesicht
und
Hände
waren
schmutzig,
Stiefel
und
Jacke
schlammbespritzt, Hemd und Hosen klamm und kalt.
Ehe er den Grafen aufweckte, wollte er sich waschen und die Kleidung wechseln.
Nachdem er die Tür leise zugemacht hatte, sah er ein gefaltetes Blatt Papier auf dem
Fußboden liegen. Er hob es auf und las:
Lieber Jim,
ich habe
das
Nachmittag
mit
angehört
Gefühl,
dass
ich dir mitteilen
muss,
was
ich heute
habe.
Ich weiß
nicht,
was
dahinter steckt,
aber es
beunruhigt mich. Vermutlich war die Heimlichkeit, mit der sie vorgingen, mindestens
genauso verstörend, wie das, was sie wirklich sagten ...
Es war Beckys Nachricht vom Tag zuvor, als sie im Kartenzimmer zur unfreiwilligen
Ohrenzeugin geworden war.
Jim las die Nachricht und setzte sich dann langsam; eigentlich bestand kein Grund,
den Grafen zu wecken. Auf wen konnte man sich überhaupt noch verlassen? Die
gesamte
Hofgesellschaft
war
aus
Geheimnissen
und
Intrigen
gewoben.
Denen
geschähe es ganz recht, wenn das ganze Lügengebäude zusammenstürzte. Außer
dass Adelaide ...
Adelaide tat alles, um dieses Adelsnest zu retten, verdammt noch mal!
Jim riss sein letztes Streichholz an und verbrannte die Nachricht; nichts war mehr
sicher. Aber wenn er nicht zum Grafen gehen konnte, sprach doch nichts gegen einen Besuch bei Frau Busch. Sie musste mittlerweile wieder in ihrem Zimmer sein.
Er wusch sich das Gesicht, schlüpfte rasch in trockene Kleidung, zog Schuhe mit
Gummisohlen an und verließ sein Zimmer. Draußen auf dem Gang war es dunkel,
aber
er
kannte
ja
den
Weg:
bis
zum
Treppenaufgang,
hinauf
ins
Mansardenstockwerk und dann die Türen zählen.
Er stand
im Gang vor
Nummer vierzehn und horchte. Unter der Tür
war ein
Lichtstreifen zu sehen und leise Geräusche drangen nach draußen, als wenn ein Bett
aufgedeckt wurde.
Er klopfte vorsichtig und hörte, wie jemand erschrocken Luft holte.
»Wer ist da?«
Er drückte die Klinke, trat ein und schloss die Tür sofort wieder.
»Jakob«, sagte er. »Erinnern Sie sich an mich? Ich habe Ihren Koffer hochgetragen.«
»Was wollen Sie? Sie sind kein Diener, das sehe ich doch. Wer sind Sie?«
Die alte Frau stand im weißen bauschenden Nachthemd und mit Spitzenhaube
neben dem Bett. Die Kerze auf dem Nachttischchen flackerte in der Zugluft. Jim
stellte sich vor. »Ich bin Graf Thalgaus Privatsekretär. Sie sind in Gefahr, Frau Busch.
Ich bin Ihnen heute Nacht in die Grotte gefolgt und habe den Mann gesehen, der
dort eingesperrt lebt. Warum wird Prinz Leopold gefangen gehalten? Und warum
helfen Sie seiner Frau?«
Sie stieß einen hilflosen Seufzer aus und setzte sich auf das Bett. Sie versuchte
mehrmals zu sprechen, doch ihre Lippen zitterten nur.
»Sie tun gut daran, mir alles zu sagen«, mahnte er sie. »Diese Frau hat König Rudolf
ermordet. Sehen Sie die Narbe auf meiner Hand? Das war ihr Messer. Es würde mich
nicht überraschen, wenn sie auch hinter dem Attentat auf Prinz Wilhelm und
Prinzessin Anna stünde. Frau Busch, Ihr Mann war an dem Tag mit Prinz Leopold
zusammen, an dem er als tot gemeldet wurde. Jetzt stecken Sie mit
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