Das Banner des Roten Adlers
dass sie die anderen beiden Prinzen auf dem Gewissen
hat?« »Damit habe ich nichts zu tun.«
Die Lippen
verkniffen,
die Wangen
hochrot,
saß
sie da
und
starrte ihn
aus
glänzenden, geröteten Augen trotzig an. Er starrte zurück, bis sie schließlich nachgab
und wegschaute. Tränen fielen auf die Bettdecke. »Das geht mich nichts an!«,
schluchzte sie. »Ich habe ihr geschrieben, weil sie ihn liebte. Und ich habe sie heute
Nacht in die Grotte geführt, weil sie sich mit eigenen Augen überzeugen wollte, dass
er noch lebt. Ich tue alles nur für ihn, meinen armen kleinen Leo, mein Prinzchen ...«
»Wollen Sie, dass er aus diesem dreckigen Loch wieder herauskommt?«
»Ja!«
»Ich auch. Er muss wieder in Freiheit gelangen und richtige Pflege erhalten. Hören
Sie mir zu, Frau Busch.«
»Ich höre ...« Ihre Augen waren blutunterlaufen, ihr Atem ging schwer.
»Sie haben Gödel schon hintergangen. Wenn er das herausfindet, wird er Sie
bestrafen, er lässt Sie fortschaffen und Sie sehen Prinz Leopold nie wieder. Und
wenn er Sie nicht bestraft, dann tue ich es. Ohne Sie ist Prinz Leopold zum Tode
verurteilt. So, und wo kann ich Carmen Ruiz finden?« »Was haben Sie vor?«
»Wie heißt doch gleich Ihr Lieblingsausdruck? >Das geht mich nichts an.< Wenn
Ihnen daran liegt, dass der Prinz am Leben bleibt, und wenn Sie sich weiterhin um
ihn kümmern möchten, dann sagen Sie mir, wo diese Frau ist.«
Sie schluckte oder rang nach Luft. Ihr Atem ging schwer, dann sagte sie: »Para...
Paracelsus ...« Dann fiel ihr Kopf zur Seite. Ein hohes leises Stöhnen kam aus ihrer
Brust und Speichel floss ihr vom Kinn auf die Bettdecke. Jim sprang auf und suchte
nach einer Klingelschnur. Im nächsten Augenblick fiel ihm ein, dass die Dienerschaft
schon längst schlafen gegangen war. Frau Busch musste einen Schlaganfall erlitten
haben, was sollte er tun? Er bettete sie so, dass sie nicht ersticken konnte, lief aus
dem Zimmer und klopfte nebenan.
Er öffnete die Tür, ohne auf Antwort zu warten, und sagte zu der verschlafenen
Dienerin, die ihn aus dem Bett verdutzt anschaute: »Frau Busch von nebenan geht
es schlecht. Haben Sie sie nicht schreien hören? Sie hat mich aufgeweckt! Schnell,
holen Sie Hilfe!« Er überließ der Dienerin alles Weitere, lief zurück in sein Zimmer,
steckte seine Pistole in die Tasche und verließ erneut das Schloss.
Zwölf Staatskunst
Eine Dreiviertelstunde später stieg er die staubige Treppe zu Karl von Gaisbergs
Dachkammer hinauf. Er klopfte an, machte die Tür auf und sah im Schein eines
Streichholzes, dass Karl fest schlief. Die Reste seines Abendessens standen noch auf
dem Tisch, während eine Maus unverrichteter Dinge davontrippelte und Jim aus
einem Loch in der Wandtäfelung anblickte. Neben dem schmutzigen Teller lag ein
Band von Schopenhauer, in dem als Lesezeichen die Klinge eines Floretts steckte.
Eine Kerze war zwischen den Hörnern eines Ziegenschädels erloschen, vor den
leeren
Augenhöhlen
des Wiederkäuers
saß eine zerbrochene
Brille. Ein Champagnerkorken steckte in einem eingetrockneten Tintenfass; ein zerbrochener Stuhl
lag als Brennmaterial neben einem gusseisernen Ofen. An der Wand über Karls Bett
hing eine Fotografie der Schauspielerin Sarah Bernhardt, daneben waren Herzchen
auf den bröckelnden Gips gezeichnet. Auf dem ganzen Fußboden verstreut lagen
wenigstens zwei Dutzend Blätter, die außer mit einer engen Schrift mit Klecksen,
Streichungen
und
Figuren
bedeckt
waren.
Auf
dem
ersten
Blatt
stand
»Eine
Untersuchung der idealistischen Folgerungen aus Schopenhauers Piatonismus«. Auf
dem nur zur Hälfte beschriebenen letzten Blatt prangte das Wort FINIS. Jim stieg
über die Blätter, riss die Fensterläden auf und stocherte mit dem Feuerhaken im
Ofen, um die Glut zu wecken.
Karl regte sich knurrend. »Was ist los? Wer ist da?«
»Ich bin's, Jim. Wo hast du den Kaffee versteckt?« »Im Blumentopf. Auf dem
Fensterbrett. Wie spät ist es denn? Was machst du denn hier in aller Herrgottsfrühe?«
Karl setzte sich zitternd vor Kälte auf und zuckte zusammen, als Jim ihm den
Morgenrock zuwarf. Auch das Schlagwerk der Domuhr, die nur einen Steinwurf
entfernt
war,
setzte sich
knarrend
in
Gang
und
vollführte
eine umständliche
Pantomime, ehe es fünf Uhr schlug. Karl fuhr sich durch die Haare und gähnte, während Jim den Kessel mit Wasser aufsetzte. »Hör zu«, sagte Jim, »wir bekommen
Ärger ...« Er warf das letzte Stuhlbein in den Ofen, setzte sich und berichtete Karl
über die
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