Das Banner des Roten Adlers
Geschichte aus nächster Nähe zu erleben, ihr
Kopfweh und ihre schmerzende Schulter vergessen.
Im Cafe Florestan kramte der Richterbund sein Wissen über die Stadt zusammen.
Paracelsus ... Was konnte das bloß bedeuten?
»Paracelsusstraße?«, war der erste Vorschlag. »Gibt es die denn?«
»Nein! Du meinst wahrscheinlich die Agrippastraße in der Nähe vom Schloss.«
»Na ja, eben auch ein Alchimistenname ... Paracelsus-garten, das könnte sie gemeint
haben.« »Das heißt nicht Paracelsusgarten, sondern Parasolgar-ten. Gleich neben
dem Marionettentheater.«
»Ach, stimmt ja. Dann gibt es noch einen Paradiesgarten. Vielleicht ist es das.«
»Bleibt um Gottes willen bei Paracelsus. Paracelsus-platz? Gibt es den?«
»Das Ganze ist verschlüsselt. Sie meinte damit Gold, weil es ein Alchimistenname ist.
Ich vermute, dass es um die Goldenergasse geht.«
»Es gibt irgendwo ein Porträt von Paracelsus. Ich habe das schon mal gesehen. Im
Museum ...« Jim sah Karl an, der die Luft aus den Wangen blies. »Wir machen uns
am besten auf die Suche«, schlug er vor. »Jeder von uns nimmt sich ein Viertel der
Stadt vor und durchkämmt es. Sobald ihr etwas findet, meldet euch. Anton, du
bleibst
hier
und
schreibst
auf,
wo
sich
die Einzelnen
befinden
und
was
sie
auskundschaften ...«
Und so begann die Suche nach Paracelsus.
Adelaide übte Staatskunst mit der ganzen List und Leidenschaft aus, die sie sonst in
ihre Spiele legte. So gewandt ging sie vor, dass Becky sich fragte, ob sie sich auf
diese Rolle nicht mit jedem Würfelwurf und jedem Schachzug vorbereitet haben
könnte. Je deutlicher sich im Verlauf des Vormittags die Einzelheiten der Verhandlungspositionen herausschälten, desto mehr bewunderte Becky die taktischen
Züge
ihrer
Königin.
Gegen
Mitte
des
Vormittags
beharrte
der
deutsche
Handelsminister auf einem beträchtlichen Preisnachlass auf raskawisches Nickel
zum Ausgleich dafür, dass Deutschland nicht die gesamte Fördermenge aufkaufen
könne. Adelaide ordnete eine Sitzungsunterbrechung an, und während die übrigen
Delegierten sich Zigarren rauchend auf der Terrasse ergingen, warf sie dem deutschen Minister einen schmachtenden Blick aus ihren großen dunklen Augen zu und
lud ihn ein, mit ihr die letzten noch blühenden Rosen zu betrachten. Ihm blieb nichts
anderes übrig, als ihr zu folgen. Becky, die ein, zwei Schritte hinter ihnen blieb und
dolmetschte,
beobachtete diskret,
wie die beiden
zwischen
den
Rosenbeeten
spazieren gingen. Adelaide sah zu dem Minister auf und sprach begeistert von der
großen Liebe und Bewunderung der Raskawier für alles Deutsche. Eine mystische
Verwandtschaft verbinde beide Völker zu einer geistigen Einheit, die über Belange
des Handels weit hinausgehe. Keine fünf Minuten später musste der arme Mann
glauben, dass erstens Adelaide in ihn verliebt war, zweitens er ein zu edler Charakter
war, um diese Schwäche auszunützen, und drittens er mit einem Entgegenkommen
seinerseits
für
immer
einen
Stein
in
ihrem
Brett
erwerben
würde.
Als
die
Verhandlungen weitergingen, fiel der Preisnachlass, den die Deutschen ursprünglich
gefordert hatten, plötzlich erheblich geringer aus.
Dann
machten
die Österreicher
Schwierigkeiten. Ihr Chefunterhändler beharrte
darauf, die Gesamtmenge an Nickel, die Raskawien an Österreich-Ungarn verkaufen
wollte, von zweihundert Tonnen auf dreihundertfünfzig Tonnen jährlich zu erhöhen.
Becky merkte, wie die Deutschen kochten - doch nun kam erst einmal die Zeit des
Mittagessens. Adelaide sprach leise mit Graf Thalgau, der daraufhin einem Lakaien
Anweisung gab. Als wenig später die Delegationen den Bankettsaal betraten, wer
hatte da den Ehrenplatz neben Ihrer Majestat? Kein anderer als der österreichische
Finanzminister. Er war aus anderem Holz geschnitzt als der leicht beeinflussbare
Deutsche,
und
anfangs
schien
Adelaide
nicht
recht
zu
wissen,
wo
der Hebel
anzusetzen war. Zudem war der Platz oben an der Tafel, auf den sich aller Augen
richteten, für einen Flirt denkbar ungeeignet.
Doch dann kam mit der Charlotte ä la Parisienne eine Gelegenheit. Adelaide hatte
das Gespräch auf die Interessen des Ministers außerhalb seines Amtes gelenkt. Ob
er vielleicht Musik liebe? Wien war ja ein Zentrum der Musik ... Ziemlich frostig
erwähnte er seine Vorliebe für die Jagd. Becky sah, wie Adelaide sich ein wenig, aber
spürbar nach vorn neigte. Die Jagd? Sie brenne darauf, alles über das weidgerechte
Jagen zu erfahren. Welches Wild solle sie zuerst
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