Das Beben
womöglich komischen Kontrast gebildet hätte. Die Mädchen im Museumsladen, der größten Räumlichkeit des Museums, die Kellner im Restaurant, die Aufseher und Assistenten, sie alle sagten »Meister«, wenn sie den ehrwürdigen, durch sein magisches Haus schreitenden Greis begrüßten. Er war nicht nackt, denn draußen lag Schnee. Die bunten Industriekacheln, die, in Scherben zerschlagen, Außen- und Innenmauern des Kunsthauses schmückten, hoben sich scharf von der ringsum alles Häßliche bedeckenden und beruhigenden Weiße ab. Wie mit dem großen Mietshauskomplex, den er zu seinem Kunst-Gehäuse verwandelt hatte, war er mit seinem Namen verfahren. Wer wußte noch, wie er im Paß hieß, aber wie viele Menschen verbanden mit seinem selbstgeschaffenen Prophetennamen Assoziationen von kindlicher Buntfarbigkeit. Er war inthronisiert als König im Reich der Phantasie. Phantasie war eines der Schlüsselwörter seiner Lehren, vorzüglich in Zusammenhang mit »Befreiung der Phantasie«. Erlösung zur Kreativität, Wirklichkeit des Traums – das waren in den Jahrzehnten, in denen er seine Botschaft verkündet hatte, feste Begriffe geworden, die seine Sammler und Bewunderer gern übernahmen. Er schien schläfrig, als er mir entgegenkam, und wäre er nicht so klein gewesen, hätte man ihn einen »schönen Greis« nennen können, mit langen orientalischen Augenwimpern und einer scharfen, schmalen Adlernase, die sein ausgemergeltes Gesicht wie ein Messer teilte. Auf dem Kopf trug er ein orientalisch besticktes Käppchen. Er hatte keine Schuhe an, so daß man die rotgeringelte Socke am rechten, die gelbgeringelte am linken Fuß gut erkannte. Ein Bergsteigergesicht, ein Guru-Kopf voll Weisheit und Güte.
Mit mir wartete der Vertreter eines Buchversandes, der eine vom Meister geschmückte Bibel herausbringen wollte.
»Die Bibel ist für mich ein Märchenbuch«, sagte der Meister, aber aus seinem schmallippigen Asketenmund klang das nicht sarkastisch. »Märchen« waren hier etwas Edles, Schönes und enthielten unendlich viel Wahrheit. »Die Märchen haben die ganze wissenschaftliche Zukunft vorweggenommen«, erklärte er dem demütigen, zu jeder Belehrung bereiten Verlagsabgesandten, der hinter seiner Ergebenheit jedoch sein Geschäftsziel nicht aus dem Auge verlor und heimlich auf die Uhr sah, »Tiere mit Menschenköpfen und Menschen mit Tierköpfen, das ist eine Vorwegnahme der Gentechnologie.«
Dabei sah er schnell zu mir herüber, als wolle er sich in jede nur erdenkliche Richtung absichern: Dem Vertreter als berufsmäßigem Verehrer der Bibel ein Kompliment machen, indem er ihr die Schönheit der Märchen zusprach, mir als möglichem Verächter der Bibel mit der Anspielung auf die allerneueste Wissenschaft schmeicheln. Der Verlagsmann ertrug diese Deutungen, von denen ihm jede einzelne unsagbar gleichgültig war. Er hatte ersichtlich überhaupt keine Meinung bezüglich der Bibel, außer daß es sich um ein verkäufliches Buch handelte, und zwar besonders, wenn man einen Verkaufsköder hatte und nicht »nur einfach eine Bibel verkaufen« wollte; selbst dann lief der Artikel noch erstaunlich gut.
»Wir haben hier eine Graphik von Ihnen für den Buchrücken ...«, sagte er in eine nachdenkliche Pause des Meisters hinein, »und wir wollen ja Einzelstückcharakter erzielen.«
»Der Einzelstückcharakter entsteht durch den Wechsel der Farbkombinationen«, sagte der Meister milde. »Sie können die Graphik in Rot, in Blau, in Grün und in Gelb drucken und haben dann Einzelstückserien von je hunderttausend Exemplaren. Ich hätte natürlich auch gerne etwas Gold- und Silberpapier dabei, um den orientalischen Märchencharakter zu betonen. Die Bibel als Buch der Sheherazade ... Das ist mein Lieblingsgedanke.«
»Ja, wundervoll«, sagte der sorgenzerfurchte Verlagsmann, »aber Gold und Silber treiben die Kosten hoch, wir sind gegenwärtig bei einem Blindprägepreis von ...«
»Nein, bitte keine Zahlen«, sagte der Meister und strich den dunklen, von nahem sehr dünnen Bart. »Ich bin der Künstler und gebe mich ganz. Wie Sie dann finanziell zurechtkommen, müssen Sie selber sehen.«
»Es ist ein teures Projekt«, seufzte der Verlagsmann. Ich fühlte, daß er sich wegwünschte. Der Überdruß an Künstlern stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ein Leben ohne Kunst und ohne Bibel, in diesem Augenblick war das sein Traumziel. »Künstler sind verrückt und schwierig«, mochte er von Kindheit an von seinen Eltern gehört haben,
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