Das Beben
ordentlichen Leuten, beide in städtischen Diensten, die niemals einen Künstler zu sehen bekommen hatten, aber nun war es, als stecke der Meister mit diesen Eltern unter einer Decke und erfülle die Pflicht, den elterlichen Weisspruch empirisch zu bestätigen.
Der große Mann dachte nach.
»Ich frage mich, ob es zu meiner Bibel nicht noch ein passendes Lesezeichen in gestanztem Goldpapier geben sollte, und eine asymmetrisch gestaltete, blattvergoldete Kerze in passendem Lapislazuli-Leuchter. Wir könnten als Unterlage der Bibel auch an einen Patchwork-Quilt denken –«
»Erst muß die Kuh vom Eis«, unterbrach ihn der Verlagsmann. Er klang jetzt ängstlich. Seine Redensart paßte zur Jahreszeit. Drei Tassen Kaffee hatte der Meister bringen lassen, jeder von uns hatte nur ein paar Schlucke getrunken.
»Sie sprechen mit meinem Agenten Herrn Tofet«, sagte er mit großer Milde. »Und vergessen Sie nicht, unsern Kaffee zu bezahlen.«
Das war eine Prinzipiensache, erzieherisches Wirken. Ein solcher Mann mußte lernen, daß in der Sphäre der Kunst Geld keine Rolle spielte und daß der Meister niemals welches bei sich trug, weil ihm Vögel und Eichhörnchen die Körner sammelten und zu Füßen legten. Daran änderte sich auch nichts, wenn das Kaffeehaus ihm gehörte.
Draußen stauten sich Schulklassen, die ins Museum geführt werden sollten. Der Meister ging mit seinen verschiedenfarbigen Socken durch die Menge der schnatternden Kinder; die Menge teilte sich und wich auf gedämpftes Kommando der Lehrerin zurück: »Das ist ER.« Er hörte das Respektsgewisper in seinem Rücken, drehte sich aber nicht um. Im Aufzug schwebten wir davon, als entziehe uns eine Wolke den Blicken des Volkes.
Die Pläne für unser Hotel waren fix und fertig, wie sich oben in dem kahlen, häßlichen Zimmer mit Eisenstühlen und einem Küchentisch herausstellte. Der Meister hatte den Entschluß gefaßt, einen vor vielen Jahren gemachten Plan für ein »ökologisches Stadtviertel«, das nicht verwirklicht worden war – denn Sozialwohnungen lassen sich viel weniger leicht in Erdhöhlen unterbringen als Luxusappartements – jetzt als Hotelplan auszugeben.
»Rom und Griechenland und die Gotik und die Renaissance waren eine Katastrophe für die Menschheit«, sagte er, während er auf das bereits etwas verstaubte Modell zeigte, das seit Jahrzehnten immer wieder ausgestellt wurde, ohne daß der Funke bei einem stadtplanenden Investor übergesprungen wäre. »Das war eine Architektur der Macht, und die Macht ist böse. Ich fordere eine Architektur der Ohnmacht. Das Bauhaus war schon besser als die traditionelle europäische Architektur, denn es hat sie vernichtet, aber wir müssen jetzt einen Schritt weiter gehen. Das goldene Zeitalter herrschte, als das Gold noch im Boden lag.« Von wem stammte dieser Satz? Hätte ich ihn das gefragt, ich hätte gewiß einen traurigen, weisen Blick als Antwort erhalten.
»Große Architektur sind für mich Blockhütten in den Favelas, Slums, Schrebergartenhütten mit vielen Anbauten, afrikanische Erdhütten, amerikanische ... irgendwas in Amerika ...?« Ich vermutete, daß ihm das Wort Pueblo fehlte, half ihm aber nicht. Sein Modell glich freilich diesen Vorbildern nicht. Von oben betrachtet war alles grün, mit grünen Sägespänen beklebt wie die Landschaft in einer elektrischen Eisenbahn. Aus diesem welligen Rasen- und Hügelland ragten kleine Maulwurfshaufen, die eine Tür und ein Fenster hatten. So sahen früher Eiskeller auf dem Land aus oder die Zufluchtsräume, die in Amerikas Taifun-Regionen neben den Pappwohnhäusern gegraben werden.
Die Fenster des Zimmers öffneten sich auf den Dachgarten, der schneebedeckt war, aber der Schnee hatte das wüste Unkrautgestrüpp nicht vollständig verborgen – »Meine Gärten sind alle vollkommen naturbelassen«, sagte der Meister, der meinem Blick nach draußen gefolgt war. Jeder weiß, wie eine Wiese aussieht, die jahrelang niemand gemäht hat. Die Natur mag von der Vielfalt ausgehen, strebt aber zur Einfalt. Aus dem Chaos geht nach dem würgenden Kampf der kräftigsten Pflanzen gegen die zarteren ein monotones Brennessel- und Queckenfeld hervor. Arme, wäßrige Blätter stehen über holzig-krautigem Gebüsch. Jetzt im Schnee sah der meisterliche Naturgarten womöglich am harmonischsten aus. Sollte auch die Hotel-Hügellandschaft in eine Unkrauthalde verwandelt werden? »Sie haben für alle Dächer Rasen vorgesehen? Wenn man das Hotel von einem höhergelegenen
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