Das Beil von Wandsbek
Neumeier besonders spürte das Bedürfnis, sich irgendwo anzuschmiegen, Nähe zu suchen. Noch nie war ihr so wie heute nachmittag das Entweder– Oder so klar geworden, von dem Friedel Timme in seiner Zelle gesprochen: daß man für das Braune Reich sein könne oder dagegen arbeiten müsse, und daß es ein Drittes nicht gebe. Und während sie durch die Straßen fuhren, die von Schnee und Bogenlampen in grelle Gruppen aus Licht und Schwärze aufgelöst wurden, schien es ihr, als führen sie in dieser Stunde schwächsten Verkehrs durch eine tote Stadt. Trotz der hellen Fensterreihen wurde sie das Gefühl nicht los, hinter diesen bewohnten Häusern sei nichts. Würde das Unheil seinen Lauf nehmen, stand wirklich im Katechismus von Karl Marx die brutale Wahrheit, drängte der Kapitalismus zu Krisen und Kriegen? Was sollte ihr heute abend Hamlet? Was Shakespeare und was überhaupt Kunst! Man mußte eine Höhle suchen und aus der Welt kriechen, wenn sie so beschaffen war, daß man einen Lintze bewillkommnen mußte und ein Richtbeil mit Curare einreiben. »Ich fürchte, ich muß dich enttäuschen, Kind«, bedachte sich Herr Koldewey. »Man soll nie über seine Stimmung voraus disponieren.Ich kann heute abend nicht deklamieren hören.« Annette biß sich auf die Unterlippe. Sie hatte recht gefühlt. Und Käte Neumeier stimmte gleich zu, auch ihr wäre es lieber, daheim zu bleiben. »Bei mir«, sagte Herr Koldewey wie selbstverständlich. »Verschiedenes ist zu verarbeiten.« Annette fuhr sorgfältig über eine Querstraße und fragte dann, was aus ihr werden solle. Sie habe sich auf diesen Abend gefreut; mit zwei leeren Plätzen sei ihr kaum gedient. »Wenn dir mein Neffe willkommen wäre, Annette? Er weiß sicher jemanden, der gern mitginge. Ich kann ihn anrufen; die jungen Leute haben für Theaterkarten die dankbarste Verwendung.« – »Bert Boje?« fragte Annette. »Warum nicht? Ein gescheiter Junge. Für seine Büchervermittlung sind wir ihm ohnehin Dank schuldig. Die Briefe der Lieselotte machen mir Spaß. Hängen wir uns an die Strippe.« Damit fuhr sie den Wagen durchs Portal. Herr Koldewey stieg aus, half den Damen heraus. »Im Notsitz hinten liegt ein Woilach, Papa. Auch metallene Pferde wollen gegen Kälte zugedeckt werden.«
Nach Tisch saßen die beiden Freunde in dem halbrunden Klubsofa des sogenannten Herrenzimmers gegenüber dem Bücherschrank und dem schweren Schreibtisch, rauchten zunächst, sprachen wenig. Herrn Koldewey ging, weil das Bewußtsein des Menschen mehrere Schichten besitzt, sein Wille aber nur in eine hineinreicht, Shakespeares »Hamlet« durchs Gedächtnis. Es war dumm, die Vorstellung versäumt zu haben. Etwas war faul im Staate Dänemark, und zum Schluß lagen fünf Leichen auf der Bühne, wenn man den Staatsmann Polonius mitrechnete, der quer durch die Tapete erstochen worden war. Prinz Hamlet war ein sehr gescheiter, höchst beachtlicher Mann, der das Unheil, das Verbrechen in den Staatsgrundlagen sehr wohl kannte, den aber der Geist der Weimarer Republik, der ruchlos ermordeten, im Schlafe vergifteten, nicht in Aktion und Harnisch zu bringen vermochte. Käte Neumeier wußte nicht, ob der Doktor spaßte oder ernst redete, als er den Geist von Hamlets Vater in so moderne Gestalt kleidete. Sie mußte aber zugeben, daß in der Tat durch die Heraufkunft des Dritten Reiches die Dramenwelt Shakespeares dem heutigen Menschen näher gerückt war als etwa den Leuten der Schlegel-Tieck-Epoche, der Meininger Zeit, der bürgerlichenWelt von Joseph Kainz und Max Reinhardt. »Im Zweikampf des Hamlet mit dem Laertes, der beiden Söhne, die um ihre Väter gebracht worden sind, spielen vergiftete Klingen die Entscheidungsrolle. Wir beide, meine Liebe, Sie und ich, haben beschlossen, ein Beil mit Curare salben zu lassen, das ebenso vom Zufall gelenkt werden soll wie das vergiftete Papier, das ja von ungefähr in Hamlets Hand kommt. Nachdem es ihn bereits verwundet hat. Unter den Büchern des jungen Mengers befindet sich auch eine Sammlung Curiosa – Abhandlungen über all die verschiedenen elisabethanischen Edelleute, denen seit dem Fall der Bacon-Theorie die Urheberschaft dieser Stücke zugeschoben wurde. Ich für meinen Teil bleibe bei dem richtigen Shakespeare und sehe, wir fangen jetzt erst an, jene Epoche zu verstehen. Dem Manne Shakespeare muß der Boden unter den Füßen glasklar und durchsichtig gewesen sein, er sah die Leichenhaufen, auf welchen jede Glanzepoche sich aufbaut. Wir in der Weimarer
Weitere Kostenlose Bücher