Das Beil von Wandsbek
Gründonnerstag gab Geesche Barfey Stinen einen Zettel, auf welchem eine Adresse und die Stunde zehn Uhr vormittag vermerkt stand.
Albert ging mit. Der Pastor Langhammer, sieh, sieh. Was da passiert sein mochte, er konnte sich’s denken. Man würde es wohl auch erfahren, es lag ja nicht aus der Welt, das Lager, in welches ihn sein Trotz und seine Unnachgiebigkeit gebracht hatten. Aber wenn die Leute ihm, Albert, jetzt die kalte Schulter zeigten, warum sollte er seiner Frau nicht den Gefallen tun? Hätten ihn ja auch ganz gut nach Wien mitnehmen können, die Brüder. Nun machte er mal hier mit, bei den Bekenntnischristen. War ein langer Weg nach der Niederstraße. Die Stadt lag ganz still, alles war zu, nicht wie bei den Katholiken, die nicht wußten, was sich gehörte. In früheren Zeiten war er so manchen Karfreitag in die Kirche getippelt, seiner Stine zuliebe – jetzt brachte er sie in den Unterstand. Erinnerte er sich recht, so hatten die ersten Christen lange Zeit in solchen Kellern ihrem Gott dienen müssen, in den Tagen der römischen Kaiser. Und die Protestanten später nochmal, während der Inquisition. Nicht gerade in Hamburg, aber doch am Niederrhein und in Holland. Jetzt war es wieder einmal so weit – konnte ihnen gar nicht schaden. Ob sich viele herzufinden würden?
Der lange, geweißte Raum voller Schemel und Stühle aus den Bürozimmern füllte sich wirklich. In der Nähe einer Steckdose erhob sich auf einem Tischchen ein brauner Apparat, ein Holzgehäuse in gotischen Formen, gleich einem Altar, und auf einem zweiten Tisch brannten zwei große Kerzen in schwarzen Holzleuchtern, aus Pastor Langhammers Kirche, die daselbst schon lange nicht mehr Dienst taten, sondern in einem Schrank der Sakristei darauf gewartet hatten, wieder einmal benutzt zu werden, wenn ein Sturm im Frühling oder Herbst die elektrischen Masten beschädigte. Neben den beiden, nahe der Wand, saß Frau Pastor Langhammer in einer Art hohen Lehnstuhls aus dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Ihr gegenüber auf einem Stühlchen Herr Levysohn, der Auswanderer, um seine Platten selber zu handhaben. Es wurde nicht gesprochen. Die Menschen, Männer und Frauen in dunklen Feierkleidern, flüsterten kaum, alle waren geladen, wußten Bescheid. Die meisten kannten einander, eigentlich alle. Fremd war nur ein Paar, das Frau Pastor in die erste Reihe gesetzt hatte, ein Herr mit rötlichgrauem Schnurrbart und ziemlich kahlem Scheitel und eine schlanke, brünette Dame, das südländische Gesicht unter einer Krone dunklen, starkergrauten Haars noch immer fast schön – Freunde des Pastors und seiner Frau, die erst in der Schweiz gelebt hatten und jetzt dem Ruf an eine amerikanische Universität folgten, wo der Professor einen Lehrstuhl für Psychologie innehatte.
Kurz nach zehn bat die Pastorin, die Türen zu schließen und zu beginnen. Stine und Albert, inmitten der Menschen, an einer der Wände, hielten ein Textbuch in der Hand, das am Eingang verteilt worden war, von früheren Aufführungen her gesammelt, kaum eins dem anderen gleich, manche schon viele Jahre alt. In Pastor Langhammers Gemeinde war ja jedes Jahr zu Ostern die eine oder die andere der großen Bachschen Passionen vom Kirchenchor gesungen worden, unter Frau Pastors Leitung einstudiert und vorgetragen.
Als aus dem neuartigen Altar das Brausen der Orgel, das Zittern der Geigen, das helle und süße Getön von Flöten und Oboen aufklang, führten nicht wenige der anwesenden Frauen Taschentücher an die Augen oder sahen zu Frau Pastor hinüber, die starraufrecht, wie mit einem aus Holz geschnittenen Gesicht, den Zuhörern entgegenblickte. »Herr, unser Herrscher«, sangen die unsichtbaren Stimmen, »Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich, in allen Landen herrlich ist.«
Stine und Albert drückten sich eng aneinander zwischen all diesen Christen, und alte Zugehörigkeiten brachen auf in beiden, nur daß Stine sie mit Rührung und Erschütterung bejahte, Albert aber gleichsam spöttisch blinzelnd zu ihnen hinüberblickte. Natürlich wurde da ein Volksaufrührer gefangen genommen, rechtmäßig verurteilt, mit genau so umständlichen Verfahren wie im Reeperbahnprozeß; der Landpfleger Pilatus, ein Militärgouverneur, ähnelte sehr dem Zuchthausdirektor Koldewey, andererseits aber auch dem Reichswehrmajor oder Oberstleutnant, den er beim Besuch des Führers so deutlich gesehen hatte. Daß die Leute, die für den Tod des Mannes stimmten, damals Juden waren,
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