Das Beil von Wandsbek
Marie in der Nähe, aber man tat doch besser, sich selbst am Apparat zu beeilen. In Hut und Mantel nahm sie gern Koldeweys Anruf entgegen: der erkorene Tag werde eingehalten werden, es sei der vierzehnte, ein Dienstag, und Annette lasse Frau Käte bitten, am dreizehnten zu Abend mit ihnen zu speisen und im Gästezimmer zu übernachten, denn die Zeremonie sollte früh um halb sechs stattfinden.
Viertes Kapitel
Durch ein rundes Fenster
Zum Glück trug Käte Neumeier das wertvolle Prismenglas des Herrn Koldewey am Riemen um den Hals, trotz seiner sechzehnfachen Vergrößerung im Aluminiumgehäuse eine leichteLast. Denn als sie das Beil von Wandsbek, dessen Stammort sie nicht kannte, zum viertenmal blitzen sah, zum viertenmal den dumpfen und leisen Krach vernahm, mit welchem, aus Schlachterläden wohlbekannt, die Schneide durch Fleisch und Knochen auf den Block dröhnt – als die Ärztin dies zum viertenmal erduldet hatte, verließ sie die Kraft. Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Fassung des »Bullauges«, fühlte dann ihre Knie nachgeben, saß auf den Dielen, den Rücken an die schräge Giebeldecke gepreßt. Annette Koldewey kauerte schon längst auf dem Boden, die Hände fest auf den Ohren, die Augen zugekniffen. Sie hatte überhaupt nur acht oder zehn Atemzüge lang das Glas benutzt, ihren Vater gesucht, Herrn Footh, den Scharfrichter mit der Maske und dem schön geschwungenen Schnurrbart, das Beil, den Block, das niedrige Schafott, das man im westlichsten, best abgeschlossenen Anstaltshofe errichtet hatte, die zwölf oder zwanzig Menschen, die sich als Zuschauer zu enger Gruppe zusammendrängten; dann hatte die kleine Glocke der Anstaltskapelle auf heftige, so noch nie gehörte Art zu läuten begonnen, ein dringliches, hilfeflehendes Gebell gleichsam ausstoßend. Dann war als erster der Strafgefangene Mengers in den Hof geführt worden, geleitet vielmehr vom Anstaltsgeistlichen und zwei Wachtmeistern, die ihn aber nicht anzufassen brauchten. Er ging frei, den Kopf auf dem dünnen Halse schräg gehalten, die Augen zunächst am Boden, diese braunen, traurigen Judenaugen. Sie waren Annette auf schreckhafte Art begegnet, als der Mann angesichts seiner hoffnungslosen Lage empor und rundum blickte in die Weite, die Nähe, irgendwohin, wissend, daß da kein Gott sei und überhaupt niemand, ihm zu helfen. Ein Fernrohr mit sechzehnfacher Vergrößerung zieht neunhundert Meter entfernte Dinge auf fünfzig Meter heran; Annette fühlte sich entsetzt angesehen, schrie schuldbewußt auf, taumelte beiseite, erst auf einen Koffer, dann auf den Fußboden, wo sie leise wimmernd verblieb. Sie schüttelte nur noch die Strähnen ihres halblangen Haares, drückte den braunen Pelz eng über ihren Schlafanzug und versteckte ihr farbloses Gesicht in seinen Aufschlägen, seinem dicken Kragen. Sie hätte niemals hier heraufgehen dürfen, dachte sie nur, der Vater hätte sie warnen müssen; eine Villadurfte nicht höher liegen als die Mauern des Zuchthauses; führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Wäre nur eine Bettdecke dagewesen, unter die sie hätte kriechen können.
Käte Neumeier hingegen hielt es aus bis zum Schluß. Sie war Zeuge der Tötung des Buchhändlers Mengers, der sich gebeugt, mit hängenden Armen, schräg gehaltenem Kopf, aber tapfer, die zwei Stufen des Schafottes emporschleppte. Die beiden Werftarbeiter Schröder und Merzenich, von denen der eine auf schauerliche Weise und wie verblödet lachte, als der Staatsanwalt eine kurze, schallende Ansprache hielt, indes Merzenich bei der gleichen Gelegenheit sieben Minuten nachher in rasendes Gebrüll ausbrach, auf die beiden Wachtmeister einzuschlagen versuchte, sich von dem Wort »Betrug« kaum zu trennen vermochte und von den Gehilfen des Scharfrichters gewaltsam über den Block gerissen werden mußte. Dies war für Käte Neumeiers Nerven eigentlich schon zu viel. Gleichwohl hielt sie durch, in der lächerlichen Hoffnung, drei könnten genug sein, den vierten würde man laufen lassen. Man ließ ihn aber nicht laufen, den Friedel Timme. Auf ihn war es ja eigentlich und letztens abgesehen. In Kätes Gedächtnis aber spukten Begnadigungen im letzten Augenblick, Berichte über Erschießungen, die nicht stattfanden, obwohl vor dem Verurteilten, seinen verbundenen Augen, bereits das Peleton angetreten und der Befehl »Legt an« gerufen worden war. Dann aber, nach einer kleinen Pause, war nicht das Kommando »Feuer« erfolgt, sondern »Gewehr
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