Das Beil von Wandsbek
dreißig Jahren der Herr Freud in Wien ... Sie sah irgendein Photo vor sich, das ihn darstellen sollte, zu Haßzwecken hergerichtet, auf dem er mit schiefen Blicken wie ein Fuchs unter seinem Hute hervorspähte. Käte Neumeier hatte den berühmten Mann gesehen; im Hause seiner Hamburger Verwandten, einer der ältesten spaniolischen Familien der Stadt, deren jüngste Tochter er vor rund sechzig Jahren heimgeführt. Mit einer ihrer Großnichten war die kleine, blonde Käte befreundet gewesen, und dort in der Wohnstube mit den Porträts berühmter Professoren und Rabbiner an den Wänden, die alle den Familiennamen trugen, war sie eines Nachmittags auch einem schwarzbärtigen Herrn mit feurigen und freundlichen Augen und einer gewinnenden österreichischen Stimme vorgestellt worden, der in der Hand mit dem antiken Siegelring eine schöne braune Zigarre hielt und ihr aufmunternd zugenickt hatte, als er erfuhr, sie wolle später Ärztin werden. Daher wußte sie die Tücke undDummheit einzuschätzen, mit der diese Fälschung hergerichtet worden ... Die Parteiarbeit lag oft in unzureichenden Händen, aber dennoch ... Sich nicht zu tief einlassen in die Irrgänge der eigenen Seele. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste, soviel war richtig. Sonderbarerweise verwandelte sich der Professor alsbald in das Gesicht des weisen Herrn Koldewey, der über Noah und die Sintflut orakelt hatte – auch er ohnmächtig gegen das Kopfabschlagen, von dem er so wenig hielt. Dafür hatte seine Tochter Annette diesen Burschen am Halse, den Footh, durch welchen das ganze Unheil gekommen war, dieser Pestkerl mit der Maske, der die Frist für Gnade abhackte. Hatte sie nicht den beiden armen Jungen, dem Merzenich und dem Schröder, Beifall gezollt, weil sie den Mut nicht sinken ließen, Gesuche einreichten, an den Führer glaubten? Früher hatte sie wirklich zu jenen Naiven gehört, die überzeugt waren von seinem guten Willen, könnte er nur überall selbst nach dem Rechten sehen! Jetzt, hier im Bette liegend, schien ihr dies keineswegs mehr gewiß; dennoch quälte es sie im Augenblick mehr, die beiden jungen Männer betrogen zu haben, als die unumstößliche Tatsache, daß Mengers und Friedel Timme viel wertvollere Leute waren, ihr viel näher, inwendig. Es ließ sich nicht leugnen, auch Friedel Timme nahm für einen Augenblick Gesicht und Gestalt dieser Fünfundzwanzigjährigen an. Er hatte nicht geglaubt, daß ein Gnadengesuch helfen könnte, und recht behalten. Die Kiefer der Reichswehr besaßen stählerne Schneiden, sie bissen mit Beilen. Das war Stabreim, Alliteration, das germanische Versmaß. Und die Germanen hatten sich auf das Geben und Nehmen von Schlägen immer wohl verstanden. Das Mündchen und die Stimme des Otto Lintze erschienen vor ihrem Bewußtsein, die Bank im Herbst, Sommerfäden und Krähenschwärme. Wo war das? Wann war das? Vor der Sintflut, bevor sie das Blut Friedel Timmes hatte hervorschießen sehen, schwärzlich im Morgenlicht, alles überschwemmend.
Dies ward ihr zu bunt. Sie hatte keine Lust, sich das gefallen zu lassen von sich selbst. Sie machte Licht, ging ins Behandlungszimmer nebenan, musterte die Präparate, mit denen die hochgezüchtete chemische Industrie die Ärzte belieferte. Morgen warauch noch ein Tag, man mußte leistungsfähig bleiben, sich zu helfen wissen. Sie wählte eine bräunliche Tablette, in der sich beruhigendes Brom mit jenem Luminal kreuzte, welches auf die Großhirnrinde wirkt. Dann legte sie sich wieder hin und nahm ein Buch, weder Bachofens »Mutterrecht« noch Friedländers »Sittengeschichte Roms«, Tiergeschichten vielmehr eines vortrefflichen kanadischen Erzählers, die sie bislang in allen Stimmungen gefesselt hatten. Aber heute schienen sie ihr belanglos. Da die Menschen einander schlachteten und auffraßen, was Besseres durfte man von den Tieren erwarten, zu Lande, zu Wasser und in der Luft? Daß eines das andere und ein drittes wieder das erste umbrachte, bis schließlich die beiden Überlebenden untergingen, weil sie sich veränderten Umständen schlecht angepaßt erwiesen, das an Tieren aufzuzeigen, stellte keineswegs ein Kunststück dar. An den Menschen mach das vor, mein Lieber, hier ist Rhodos, hier springe. Ja, aber dennoch blieb es gut, eine Wildkatze zu sein und einem Stadthund das Rückgrat durchzubeißen, der es bislang nur mit Hauskatzen zu tun gehabt hat, von seinem Herrn zum erstenmal in die Sommerfrische mitgenommen, die kanadischen Wälder. Vielleicht handelte sie
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