Das Beil von Wandsbek
unten im Erdgeschoß würden wissen, was der Ton des Glöckchens bedeutete, und woher er kam. Von X überreichte inzwischen den mutigen Herren ein falsches Aktenstück, um der Stabswache Zeit zu verschaffen; die vielen Treppen in der Bendlerstraße, nicht wahr? Als der kluge Abgesandte den Irrtum des Majors erkannt und von X ihn berichtigt hatte und die wirklichen Urkunden über die Ermordung des Generals Kurt von Schleicher von den Händen der Schwarzröcke angeblättert wurden, flog die Tür auf, die Reichswehr erschien auf der Szene, Stahlhelm und Flinte füllten das Zimmer. ›Abführen‹, sagte Major von X, nichts weiter. Ob die vier jungen Herren erblaßten, weiß ich nicht; jedenfalls landeten sie im Keller,wurden kurzerhand erschossen, im Krematorium abgeliefert, als vier Blechschachteln zurückerhalten und in dieser Verpackung Herrn Himmler zugeleitet, der hoffentlich verstand, wen er da am Barte gezupft hatte. Sehen Sie, Käte«, schloß er mit seiner hohen und höflichen Stimme, indes der Wagen am Hause Wandsbeker Chaussee zwei gehorsam hielt, »diese Geschichte wird nie ein Amerikaner erfahren oder erzählen. Und doch wäre sie lehrreich, sie trüge zum Verständnis bei, hüben und drüben. Im Bürgerkrieg fallen vier Leute hier und vier dort, bald von der Partei, bald gegen die Partei, durch Pulver oder durchs Beil. Wer sich dahinter aufrichtet, das ist der Herr im Haus, und auf den kann man sich verlassen. Vor allem fürs Geschäft, und darauf kommt’s ja den Yankees vorwiegend an. Und nun: Wann trinken Sie bei uns wieder einmal eine Tasse Kaffee?« – »Wenn es Ihrer Gattin paßt, mich anzurufen«, erwiderte Käte, noch immer benommen, während der Fahrer Ehlers den Schlag geöffnet hielt. »Und wann, Gegenfrage, weiß ich Bescheid, ob ihr Gnade für Recht ergehen laßt, und für wen von den Vieren?« – »Hängt vom Amtsschimmel ab. Weiß keiner, wie schnell der trabt. Letzte und sicherste Frist: der Hinrichtungsmorgen. Wenn die Armesünderglocke schallt und der Scharfrichter sein Beil wetzt, dann kann der Staatsanwalt noch immer verkünden: Ihrem Gnadengesuch wurde stattgegeben und Ihre Strafe in soundsoviel Jahre Zuchthaus verwandelt. Bin selber neugierig, wie die Entscheidung fallen wird, ob mit Köpfen oder ohne.«
Käte Neumeier stand einen Augenblick auf dem Bürgersteig vor ihrer Wohnung, sah dem Wagen nach, der in der Lübeckerstraße verschwand, und merkte nicht, daß sie mehrere Sekunden lang den Kopf schüttelte und einigen Passanten befremdlich erscheinen konnte. Seit ein paar Jahren hatte man sich daran gewöhnt, seltsame Kleinigkeiten auf den Straßen zu übersehen. Verschwand da ein grauer Wagen im sonnigen Dunst und Nebel der Lübeckerstraße, ganz alltäglich. Aber Käte hatte das Gefühl, als werde unter ihm der Erdboden durchsichtig, der Asphalt mit seinen Röhren und Kabeln, und man blicke in die Eingeweide des deutschen Alltags, wenn man ihm nachsah. In diesen Röhren und Kabeln wird sich unter anderem das Schicksal von FriedrichTimme entscheiden, des Buchhändlers Mengers und der beiden Werftarbeiter Schröder und Merzenich, mit allen Angehörigen etwa zwanzig Köpfe. Sie alle bedrohte ein einziges Beil, und Käte Neumeier würde es fallen sehen. Und während sie die Treppe zu ihrer Wohnung emporstieg, eine ziemlich dunkle, nicht sehr breite Holztreppe, tadellos gebohnert und mit blankem Messinggestänge geschützt, staunte sie über die Veränderung, die in ihr vorgegangen war, seit sie Herrn Koldewey gebeten hatte, den Vorgang mitansehen zu dürfen. Aus einer unbeteiligten Ärztin war sie inzwischen verwandelt worden in eine sehr beteiligte Person, sie wußte nicht zu sagen, in was für eine. Daß zwei Unterredungen mit Strafgefangenen nur dann eine so tiefgreifende Wirkung haben konnten, wenn in einer Seele allerlei Hohlräume bereitlagen, Resonanzen zu geben oder einzustürzen, gestand sie sich schweren Herzens ein. Wußte der Teufel, was mit ihr vorging! Hatte der kluge Lintze recht gehabt? Rührte sich in ihr die Vergangenheit, nicht nur die letzte, auch die vorvorletzte? »Es arbeitet im Holz«, hatte ihr Marie erklärt, als sich im Küchentisch Sprünge bildeten, und zwar mit Krachen. Totes Holz ist eben nicht tot, Leben bleibt Leben. Es arbeitete offenbar auch im Menschen. Bis die ersten Patienten kamen, hatte sie noch fast eine Stunde Zeit. Sie wollte sich ausruhen, aber nur zwanzig Minuten, und dann etwas über seelische Dinge lesen in gelben Heften, die immer
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