Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Beil von Wandsbek

Das Beil von Wandsbek

Titel: Das Beil von Wandsbek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Zweig
Vom Netzwerk:
ab«. So war es vielen ergangen, die sich nicht schuldiger gemacht hatten als Friedel Timme, und einer davon, Dostojewski, hatte es beschrieben. Diesmal aber ... er hatte seine Schultern, seinen Kopf steifgehalten, den Scharfrichter, diesen Ersatzmann, klar und stetig angeblickt und einige Worte gesprochen, ehe er vor dem Block in die Knie brach. Was er gesagt hatte, konnte sie nicht verstehen, trotz der lautlosen Stille, in welcher der Vorgang abrollte. Eine rasende und ohnmächtige Empörung schüttelte sie, bevor sie sich niedergleiten ließ. »Diese Hunde«, schrie es in ihr, »diese Mörderbrut!« Hätten ihre Wünsche Kraft gehabt, so wären all diese Zuschauer tot zusammengebrochen, vor allem dieser Mörder, derScharfrichter, der sich freiwillig zum Henkeramt bereitgefunden hatte, und der Footh, Annettes Footh, der ihn herbeigeschafft. Dann wäre sie gern ohnmächtig geworden. Aber das gelang ihr nicht, es war zuviel unverbrauchte Kraft in ihr, und das war gut. Jemand mußte da sein, Friedel Timme zu rächen an dem schnurrbärtigen Schurken, der das Beil so sicher handhabte. Diesen Schnurrbart, diesen Mund, dieses vorgestemmte Kinn, sie hatte alles schon gesehen, sie wußte noch nicht wo und wann, aber sie würde sich erinnern. Sie saß auf dem Boden in ihrem schwarzen Pelzmantel, das Herz hing ihr flau in der Brust, Gott oder der Teufel allein wußte, woher sie die Kraft nehmen sollte, vor den Mittagsstunden noch ihrer Praxis nachzugehen, bei der kleinen Holzmüller die Auskratzung vorzunehmen. Ihr unterer Kiefer zitterte gegen die Zähne des oberen. Kalter Schweiß brach aus ihrer Haut; sie würde sich mit irgendwelchen Tabletten über diese Krise hinweghelfen, jetzt gleich eine Toilette aufsuchen.
    Der Mensch hält mehr aus, als er weiß, besonders wenn ihn ärztliches Studium abhärtete und er in Zeiten voll politischer Fäulnis lebt. Eine Stunde Bettruhe tut Wunder, ein Bad, eine kalte Dusche; man kann dann sogar ein zweites Frühstück genehmigen und sich mit Eiern, Schinken, gutem Kaffee und Sahne kräftigen. Auch Herr Koldewey saß mit an diesem Frühstückstisch, sein Gesicht noch länger als sonst, die Wangen wie eingefallen, dunkle Schatten unter den Augen. Er sprach nicht viel über das Geschehene, beschränkte sich mit seiner halblauten Stimme auf Anerkennung für alle Beteiligten, den Staatsanwalt Russendorf, der sich krampfhaft auf seinen Stock hatte stützen müssen, den Oberstleutnant Lintze, den Hilfsscharfrichter, der seinem schweren Amt wirklich voll gewachsen war. Als die aufgehende Sonne durch ihr rotgoldenes Gewölk brach, der Mond aber noch goldbleich im Westen hing, war alles vorüber gewesen. Die letzten Worte des Setzers Timme, er hatte sie genau behalten und vorhin schon niedergeschrieben, um sie als Anhang Nummer drei der Denkschrift beizufügen, die Frau Neumeier ja kannte. »Ihr werdet schon sehen, ihr alle, was ihr davon habt, besonders du, armer, dummer Hund«, zu dem Henker gesprochen – »ihr müßt alle in meinem Blute ersaufen – und dann kommenwir wieder.« – »Eine sonderbare Welt«, sagte Herr Koldewey, »die der vergangene Krieg hinterlassen hat. So muß es Noah und seinen Söhnen zumute gewesen sein, als die Wasser gefallen waren, verlaufen, zum Teil schon weggetrocknet, und sie aus der Arche gingen, die Füße wieder auf die feste Erde setzten. War sie alt oder neu, eine andere oder dieselbe? Die Luft jedenfalls, die ihre Lungen füllte, tat wohl, frisch und unverbraucht, auf dem armenischen Berggelände Ararat. Und doch mußte sich in allen Tälern dicke Verwesung vorbereiten, die Myriaden Ertrunkener würden sich schon melden, die Geier, Rabenschwärme, die geretteten Schakale bis auf weiteres voll zu tun bekommen. Und doch ward uns darüber nichts berichtet, die Erde begrünte sich, der ganze Betrieb ging weiter, und die Menschheit war königlich davon entfernt, sich zu beklagen oder Vorkehrungen zu treffen. Wir sind ein seltsames Geschlecht, weiß der liebe Himmel. Ich möchte wirklich wissen, ob es einer Generation gelingen wird, mit diesem Schlendrian zu brechen, und welcher.«
    Ja, welcher, dachte Käte Neumeier, als Annette sie nach Hause fuhr. Die Stadt Hamburg lief in ihrem vollen Alltagsbetrieb, niemand hatte eine Ahnung, daß irgend etwas Ungewöhnliches geschehen war, niemand konnte eine Ahnung haben. Und doch war Käte Neumeier, als müßte sie schreien, die Leute an den Schultern packen, wachrütteln, aus der Ruhe bringen, dem Lachen, dem

Weitere Kostenlose Bücher