Das Beil von Wandsbek
noch in Wien erschienen, obwohl die Partei dagegen war. Dort fand man Wege zur Klarheit, auch über sich selbst. Komisch, daß alle Publikationen dieses Verlages gelbe Umschläge hatten. Riefen diese gelben Hefte nicht trotzig aus: Achtung, wir kommen vom Juden? Ihr gebraucht uns auf eigene Gefahr? Nun, Käte Neumeier fürchtete sich nicht vor ihnen. Nein, während sie sich ausstreckte, mit einer graubunten, schottischen Decke sich zudeckte, die Fransen vom Kinn wegstrich und ihre Augen schloß, nickte sie sich zu: es wäre gar nicht schade, wenn von der alten jungen Käte Neumeier, dem mutigen, tatbereiten Mädel von vor zwanzig Jahren, noch etwas in ihr lebte, auf seinen Tag wartete. Es war ein gutes Werk, die Lintzes hinters Licht zu führen; Friedel Timme würde mit ihr zufrieden sein. Und sie entschlief und lächelte einer jungen Käte Neumeier zu, einem Wandervogelmit zwei dicken, blonden Zöpfen und einem Scheitel bis zum Wirbel. Als die Sprechstunde begann, mußte die treue Marie sie wecken, ihr eilig in die weiße Schürze helfen, warmes Wasser aus dem rotbeknopften Hahn über ihre Hände laufen lassen.
Die Übergangszeit vom Sommer zum Herbst verlangt ihre Opfer, das wissen die Ärzte. Wenn sich die Tag- und Nachtgleiche nähert, zeigt sich so manche Widerstandskraft erschöpft, die den Sommer über täuschend anhielt. In Doktor Käte Neumeiers Kartothek figurierte eine krebskranke Frau, ein knochentuberkuloses Kind und eine Greisin, die unter keinen Umständen die Erde verlassen wollte, auf der sie es schon neunzig Jahre trieb. Diese drei Fälle nahmen ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit und ihre Kunst voll in Anspruch. Als Frau Staatsanwalt Russendorf und Frau Oberstleutnant Lintze sie innerhalb der nächsten Woche anriefen, an die versprochene Tasse Kaffee erinnernd, ging sie nur widerstrebend auf beides ein, einzig in der Hoffnung, nebenbei etwas über die Gnadengesuche zu hören, die in den Kabeln und Röhren entschieden werden sollten. Aber die Damen wußten nichts, und ihre Herren, die beide zum Kaffee erschienen, beide Zigarren rauchten und sich beide begeistert zeigten, sagten nichts. Auf dem Heimweg von Russendorfs sah Käte den jungen, zunehmenden Mond über ihrer Straße stehen, eine blaße Sichel.
»Möndl, Möndl, weißt du nicht,
Wie’s mit meinen Vieren sticht?«
dichtete sie ihn an, leicht beschämt über ihre Albernheit, den Rückfall in die Tage der Jugendbünde und des Märchens. Natürlich konnte der Kerl nicht antworten, mit Dickerwerden beschäftigt wie er war. Es ging schneller bei ihm als bei dem schwangeren Fräulein Holzmüller, deren Gravidität sie unterbrechen sollte. Die Kleine kam aus einem Arbeitslager zurück und hatte altmodische Leute zu Eltern; es würde noch vierzehn Tage dauern, ja noch mehr, bis der Mond voll war und die Hoffnung geschwunden, daß die Natur ihren periodischen Ablauf, begünstigt durch einige nachhelfende Spritzen, von selbst wieder einrenkte. Bis dahin konnte sich Käte überlegen, ob sie dem Postsekretär Holzmüller helfen wollte; seiner kleinen Liese war es weder rechtnoch unrecht, sie ließ mit sich machen, was man von ihr verlangte. Ja, aber jene vier Leute in ihren Zellen? Auch sie wurden nicht gefragt, mußten mit sich machen lassen, was eine höhere Macht verfügte, hatten womöglich einen noch kürzeren Lebensfaden als der kleine, wachsende Fötus in Lieschens schlankem Bäuchlein und der zunehmende Mond. War er um seine Vollmondkurve herum, wo er in trügerischem Glanz die Nacht beherrschte und diesmal das Äquinoktium anzeigte, so mußte er hinunter, in die Grube fahren, wie Eurydike ihrem Orpheus entschwindend. Denn der Mond war Luna, eine Göttin, und konnte es sich leisten, en passant zu sterben. Friedel Timme aber hatte niemanden, der ihn herausholte, war die Sache erst einmal schief und zu Ende gegangen. Und sie ertappte sich bei dem Wunsche, dem Ersatzhenker, den Herr Footh besorgt hatte, möchte ein Unglück zustoßen, wie jenem Zeugen Bräse, der bei der Luftabwehrübung von den Hellingen gestürzt war, wahrscheinlich nicht ohne Nachwirkung eines Nebenmannes, und sich den Hals gebrochen. O weh, sie hatte Lene Prestows Grab noch immer nicht aufgesucht, und sie nahm sich vor, als sie ihre Haustür mit dem Kunstschlüssel öffnete, Annette zu bitten, sie das nächste Mal über Ohlsdorf zu fahren, wenn sie sie nach Fuhlsbüttel abholte. Während sie ihre Wohnungstür aufschloß, hörte sie das Telephon klingeln. Nun war zwar die treue
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