Das Beil von Wandsbek
verfluchten Schlendrian. In ihrem Gedächtnis erklang aufs sonderbarste ein Satz, den sie die Schauspielerin Else Lehmann als Frau John in Gerhard Hauptmanns »Ratten« hatte sprechen hören: »Bruno, du jehst auf schlechte Weje.« Niemand konnte wissen, auch sie nicht, warum ihr gerade diese Replik so eindringlich haften geblieben war und warum sie jetzt in ihr herumspukte; man ist ein sonderbares Huhn, dachte sie, als sie sich von Annette verabschiedete, ihr für die Gastfreundschaft dankte, im Geiste schon die kleine weiße Pille wählte, die sie jetzt mit einem Schluck Wasser nehmen würde, um weiter zu arbeiten.
Als sie nach vollbrachtem Tagewerk zu Bett lag, war sie darauf vorbereitet, nicht sogleich einschlafen zu können, und hieß es gut. Irgendeinen Ort muß der Mensch besitzen, in welchen er sich zurückzieht, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, undman könnte unsere Gattung nach Unterschieden in dieser Hinsicht sogar einteilen in Bettlieger, Badewannler, Caféhäusler, Spazierläufer und andere. Käte Neumeier zählte zu den Bettliegern. Aber sie hatte sich noch nie so erschlagen gefühlt und zugleich so angekurbelt wie heute. Ging es nicht anders, das sah sie gleich, so würde sie nicht ohne ein Schlafmittel auskommen. Dabei gehörte sie zu jenen Ärzten, die im Streite der Meinungen, was schädlicher sei, eine schlaflose Nacht oder eine leichte Dosis eines Morphiumderivats, sich gegen das letztere entschieden. Der Naturheilkundige in ihr versah sie mit übertriebener Angst vor Giften, die ihren Patienten immerhin zugutekam, und einer leidenschaftlichen Freude an Abhärtung jeder Art. Sie hatte denn auch die Absicht gehabt, heute Abend einen Vortrag eines Kollegen über schwedische Heilkunst und Wünschelrute im Radio anzuhören; aber sie hätte es nicht geschafft. Der gute Laberdan würde sie entschuldigen.
Nun lag sie also da, hundemüde und voll beschäftigt, auf elastischer Matratze, leicht und warm zugedeckt, behaglicher als erlaubt. Denn die vier Leute, mit deren Geschick sie viel zu spät begonnen hatte sich zu beschäftigen – wie und wo diese vier Leute jetzt schon verweilten, wollte sie sich keineswegs vorstellen. Sie kannte die anatomischen Säle, die ihrer harrten, das Studentenmaterial, das sich an ihren Körpern unterrichten sollte, die heillosen Scherze, die man am Seziertisch nebenbei betrieb. Der Nachwuchs mußte lernen, und Spaß mußte mitgenommen werden. Gleichwohl: hatte sie früher darüber nachgedacht, wer seinen Körper der Anatomie verkaufte oder was für Schicksale unterm Skalpell schließlich mündeten? Jetzt kannte sie vier von ihnen und schätzte sich glücklich, durch nichts dazu beigetragen zu haben, daß es so gekommen. Schon daß sie mit den Lintzes nahezu versippt war, rechnete sie sich beinahe zur Schuld an.
Das Zimmer um sie stand vertraut und ruhig in fast vollkommener Dunkelheit; nur durchs Fenster fielen spärliche elektrische Schimmer von der Straße. Störender schon erwies sich Musik, die, unbestimmt woher, sich Einlaß verschaffte, vom Radio ausgehend oder von einem Grammophon, im ersten Stock unter ihr oder der Nebenwohnung. Da sie noch nie vor neun schlafengegangen war, hatte ihr bisher die Gelegenheit gefehlt, diese Lebensäußerungen der Volksgenossen wahrzunehmen; es war ihr gutes Recht, sich zu zerstreuen, niemand warf es ihnen vor, auch wenn es eine Frau sehr quälte, die nichts wollte, als von einer Schar geordneter Gedanken in Schlummer geleitet zu werden. Ist aber in einem ein inneres Weinen wach, so quält ihn Webers »Freischütz« mit seinen Chören und Arien so arg, daß er es mit schwächenden Empfindungen am Herzen bezahlt. Käte Neumeier entnahm ihrem Nachttisch Wattekugeln, mit Wachs getränkt, wie schon Odysseus sie gegen die Sirenen benutzt hatte, und verschloß ihre Ohren; die akustische Welt da draußen ward beiseite gedrängt, abgedämpft. Leider sprachen die inneren Stimmen daraufhin viel lauter. Eine Dummheit der Natur oder Gottes, den Menschen ohne Ohrenlider konstruiert zu haben. Oder sollte es etwas bedeuten? Lag das Wesen Mensch beständig auf der Lauer, aufzuspringen und zu flüchten? Würde es sich der Gnade des Schlafes nur unvollkommen erfreuen, auch in ihm argwöhnisch in die Dunkelheit horchend, nach Feinden spähend, Menschenfressern, wenn ihm die Seele nicht die Lust des Träumens vorgaukelte? Jener lebensähnlich täuschenden Luftgebilde, die man den Dichtern, Zigeunern, Traumbüchern überlassen hatte, bis vor
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