Das Bernsteinzimmer
habe und auch die Army auf mich verzichtet. Ich muß auf Washington warten.« Er zeigte aus dem Fenster in den Park von Schloß Kiessheim. »Wollen Sie hier mit mir warten? Im Schloß ist Platz genug. Ist es nicht wundervoll? Der Blick über Salzburg, hinüber zur Veste, das Panorama der Berge, die Seen des Salzkammergutes vor der Tür. Hier könnte ich leben. Sie wissen, daß ich ein deutscher Jude bin?«
»Ich habe es angenommen, Captain.«
»Zwölf Jahre lang habe ich Heimweh gehabt nach diesem Deutschland. Nach diesem schrecklichen Deutschland! Vierzehn Verwandte sind in Buchenwald, Flossenbürg und Mauthausen umgekommen, erschlagen, zu Tode gequält, in der Gaskammer, als Opfer von medizinischen Versuchen. Und trotzdem hatte ich Heimweh, verstehen Sie das?«
»Ja. Janaschka und ich … wir haben auch Heimweh nach Puschkin … aber nur mit dem Bernsteinzimmer.«
»Vielleicht bleibe ich wirklich hier in Österreich. Vielleicht kann man mich als Kunsthistoriker gerade hier in Salzburg gebrauchen. Hier atmet Kunst aus jedem Stein.« Silverman schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Pläne … der größte Krieg aller Zeiten ist zu Ende, und wir machen schon Pläne. Wie sieht die Zukunft aus, Herr Wachter?«
»Ich kenne nur ein Ziel: das Bernsteinzimmer.«
»Und wenn Sie dadurch zum ewigen Wanderer werden?«
»Dann muß es so sein, Captain«, sagte Wachter in fast feierlichem Ton. »Dann ist es Gottes Wille.«
Die Entlassung Captain Silvermans zog sich hin. So einfach kann man nicht vom Geheimdienst abspringen, vor allem nicht, wenn man so viel wußte wie Fred Silverman und seine von ihm geleitete Einsatzgruppe ORION für Kunst und Kulturgüter im deutschen Reichsgebiet. Außerdem leitete er eine Abteilung der T- Forces , eine Spezialeinheit, die nach Auswertung der Geheimberichte nicht nur verborgene Schätze, Patente, Archive oder Bibliotheken suchte, sondern auch untergetauchte, versteckte oder unter falschem Namen lebende Kriegsverbrecher. Ein solcher Mann will gehen, wirft seine Aufgabe hin?
Captain Silverman wurde nach Washington befohlen. Am 3. August flog er nach Amerika. Zur Berichterstattung, wie es hieß. Zum Verhör, wie er wußte.
Wachter und Jana hielten es auf Schloß Kiessheim nur bis zum Juli aus. Sie fuhren, noch immer mit dem alten Adler-Wagen, zurück zur amerikanisch-sowjetischen Zonengrenze, über die von Hitler so geliebte Autobahn München–Berlin, und zeigten den amerikanischen Posten nördlich von Hof ihre Ausweise. Ein Lieutenant nickte, warf mit amerikanischer Unkompliziertheit einen Blick auf die Ausweisbilder, verglich sie mit den Personen und gab den Weg frei.
Auf sowjetischer Seite empfing sie zunächst Mißtrauen, vor allem als Jana auf russisch »Guten Tag, Genossen!« rief. Sie wurden in eine Baracke gebracht, wo ein junger Oberleutnant vor einem Radio saß und andächtig eine Arie aus der Oper Eugen Onegin hörte. Er blickte kurz auf, zeigte auf die Wand, der Posten schob Jana und Wachter an die Bretterwand, und dort standen sie, bis die Arie zu Ende war. Der Oberleutnant drehte das Radio unwillig leiser. Das nächste Stück war die Ouvertüre zu Ruslan und Ludmila.
»Woher? Wohin?« fragte er im Befehlston.
»Von Salzburg nach Berlin, Genosse Oberleutnant«, antwortete Wachter auf russisch.
»Warum?«
»Deswegen. Lesen Sie –«
Wachter entfaltete das viersprachige Papier und legte es dem Offizier auf die Tischplatte. Die Wirkung war verblüffend. Mit einem kurzen Blick erfaßte der Oberleutnant die vielen Stempel auf dem Papier, drehte sofort das Radio aus, blickte erstaunt zu Jana und Wachter und beugte sich über das Schreiben. Die Wunderkraft der Stempel wirkte. Je mehr Stempel auf einem Papier, um so ehrfurchtsvoller wird ein Russe. Ein Stempel kommt von einem Amt, und je mehr Ämter gestempelt haben, um so wichtiger muß die Person sein.
»Seien Sie willkommen, Genossen«, sagte der Oberleutnant nach der Lektüre des Briefes. »Natürlich können Sie sich frei bewegen, wohin Sie wollen. Das Bernsteinzimmer suchen Sie? Ich habe davon schon gehört, von dem Zimmer, in der Armee-Zeitung stand es, die Faschisten haben es gestohlen. Was diese Hunde nicht alles gestohlen haben, nicht wahr, Genossen?! Bekommen wird jetzt alles wieder?«
»Wer weiß das?« Wachter nahm das Papier wieder an sich, faltete es und steckte es ein. »Wir können weiterfahren?«
»Wohin Sie wollen, Genosse.« Der Oberleutnant lachte jungenhaft. »Von mir aus bis
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