Das Bernsteinzimmer
Bombenangriff gefallen.«
»Und von Frieda keine Spur?«
»Keine. Ich weiß gar nichts. Wer sind Sie denn?«
»Ich habe dort –« sie zeigte auf den Platz an der Schreibmaschine – »gesessen und … und wurde dann versetzt.«
»Tut mir leid.« Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Damals sind so viele Menschen in Königsberg spurlos verschwunden oder als unbekannte Tote begraben worden. Die Russen schossen ja fast pausenlos in die Stadt. Wer da auf der Straße erwischt wurde … ein namenloser Toter mehr. Es war die Hölle.«
»Danke.« Jana nickte der Oberschwester zu. Ihre Kehle war trocken und wie geschwollen. »Danken wir Gott, daß jetzt alles vorbei ist.«
Sie verließ Friedas Zimmer, lehnte sich draußen an die Flurwand und weinte. Niemand blieb stehen und fragte. Man hatte in Königsberg immer Grund, zu weinen … denn ein Königsberg gab es nicht mehr.
Am 3. August, dem Tag, an dem Captain Silverman nach Washington abflog, lag Puschkin vor ihnen … die breite, von hohen Bäumen gesäumte Zufahrt des Katharinen-Palastes. Eine zerstörte Fassade, eingesunkene Dächer, zerbrochene Mauern. »Mein Gott«, sagte Wachter leise und faltete die Hände. »Mein Gott –«
In einigen der mehr oder weniger beschädigten Prunkräume war ein Kommando der Roten Armee untergebracht worden, um den Katharinen-Palast zu bewachen. Auch wenn man bekanntgegeben hatte, daß jeder, der etwas aus dem Palast mitnahm, als Plünderer betrachtet und sofort erschossen würde, so sicher war man sich nicht, daß von den unüberblickbar vielen, dennoch geretteten Kunstschätzen nicht doch eine Kleinigkeit beiseite geschafft wurde. Ein ziselierter Silberlöffel, ein handgetriebener silberner Kerzenleuchter, chinesische Prozellantellerchen, eine kleine Vase, ein assyrisches Glas, eine goldene Tabatière … es gab so viele Dinge, die man in eine Hosentasche stecken oder unter einer Mütze mitgehen lassen konnte.
Nach der Zerstörung des Schlosses und dem Rückzug der deutschen Truppen am 15. Januar 1944 aus Puschkin hatten vor allem die eingesetzten Puschkiner Frauen die Trümmer weggeräumt. Feuerwerkertrupps der Roten Armee durchsuchten Schloß und Parks nach Blindgängern, versteckten Bomben und Sprengsätzen, und eine Kommission von Kunstexperten besichtigte die Paläste des ehemaligen Zarskoje Selo und stellte fest, daß die Deutschen sachverständig und gründlich gestohlen hatten. Was man nicht vorher schon nach Leningrad in Sicherheit gebracht hatte, war verschwunden oder zerstört … nur wenige Teile waren gering genug beschädigt, daß man sie wieder restaurieren konnte.
Aber dafür war jetzt keine Zeit. Auch nicht im Jahre 1945, dem Jahr des Sieges. Es galt, die zerstörten Städte und Dörfer aufzubauen, die Landwirtschaft und die Industrie notdürftig in Schwung zu bringen, die Bilanz von Tod und Vernichtung zu ziehen und die Milliarden Rubel aufzubringen, das verbrannte Land wieder zum Blühen zu erwecken. Die Kunst konnte warten … ein hungernder Mann findet keinen Gefallen mehr an einem Gemälde von Raffael. Zuerst hieß es, Wohnungen bauen … für die Schlösser war der kommende Frieden lang genug.
Auch der Katharinen-Palast war soweit aufgeräumt worden, daß man wieder durch die Räume gehen konnte. Einige der prunkvollen Säle waren sogar mit geretteten Möbeln ausgestattet worden. Ständig im Einsatz tätige Putzkolonnen von Frauen aus Puschkin sorgten dafür, daß etwas Sauberkeit den einstigen Glanz des Palais ahnen ließ und daß im Winter der Frost nicht noch mehr zerstörte. Ein Verwalter überwachte alle Arbeiten und sortierte vor dem Abtransport der Trümmer alles heraus, was man später für die Erneuerung noch gebrauchen und einbauen konnte.
Eine ganze Weile standen Wachter und Jana Petrowna vor der zerstörten Fassade, blieben in ihrem Horch-Wagen sitzen und schwiegen erschüttert.
Der Krieg hatte aus Europa ein Ruinenfeld gemacht, Jahrhunderte von Kulturen waren im Granaten- und Bombenhagel vernichtet worden, waren in Brand aufgegangen oder mutwillig in die Luft gesprengt worden – aber war das ein Trost für Michael Wachter? Das hier war sein Katharinen-Palast, war sein Puschkin, war einst sein Bernsteinzimmer gewesen. Fast 230 Jahre hatte ein Wachter in diesen Räumen gelebt, war dafür geboren worden und dafür gestorben. Zaren und Zarinnen waren gekommen und gegangen, hatten unter dem Gesang der Priester und Mönche und dem Geläut der Glocken ihre Seele ausgehaucht oder waren
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