Das Bernsteinzimmer
tief Atem, bevor am Morgen die Granaten heranheulten, die Erde aufrissen und die Panzerketten alles im Wege Liegende zermalmten.
Auch die Frauen hatten das Schloß verlassen und waren zurück in ihre Häuser gelaufen, erwarteten dort die Deutschen und zitterten ihrer ersten Begegnung mit den Eroberern entgegen. Wie waren diese Deutschen? Stimmte es, was man von ihnen erzählte, was man in den Zeitungen las und was man ihnen berichtete? Vergewaltigten sie die Frauen, warfen sie die kleinen Kinder mit den Köpfen an die Wände, erschossen sie alle Männer, zündeten sie die Häuser an? Viele Bewohner von Puschkin glaubten es und schlossen sich daher noch schnell den zurückflutenden Soldaten an. Auf Handwagen, vor die sich die Frauen an Stricken schirrten, schleppten sie das Allernötigste mit sich fort: ein paar Töpfe, Bettzeug, Decken, Kleidung, Truhen mit Wäsche und heimlich auch das Kruzifix aus der ›schönen Ecke‹ der Wohnung, ein Marienbild oder den segnenden Christus. Wer ein Pferd hatte, war ein Glücklicher. Er konnte es vor seinen Wagen spannen, konnte sogar Möbel mitnehmen und vieles, was im Laufe eines Lebens zusammengekommen war. Er konnte Kartoffeln und gesäuerten Kohl mitnehmen, eingelegte Gurken und dicke, schöne Zwiebeln, einen bisher versteckten Schinken oder strammgestopfte Würste, ja, einige schlachteten sogar noch ein Schwein und deckten es mit Möbeln und Betten zu. Hunger würde es in Leningrad geben, das ahnte man. Von allen Seiten rückten die Deutschen vor, und der Ring um die Stadt wurde immer enger. Woher sollte man für Hunderttausende das Essen bekommen? Da war alles, was man kauen konnte, wichtiger als alles sonst. Wer wußte denn, wie lange die Blockade dauerte, ehe sich die Stadt ergab oder die Deutschen zurückgetrieben wurden oder im Regen ersoffen oder im Eissturm erfroren … Warten wir es ab, warten wir geduldig. Beides haben wir ja in Jahrhunderten gelernt, das Warten und die Geduld.
Michael Wachter saß die ganze Nacht über auf einem Schemel im Bernsteinzimmer, in völliger Dunkelheit, allein mit allen Schätzen, die nur noch diese Nacht lang Rußland gehörten. Zeit hatte er jetzt, sich zu erinnern an den letzten Zaren Nikolaus II., der 1916 mit der Zarin, dem Zarewitsch und seinen vier schönen Töchtern hier im Zimmer saß und um Rasputin, den dämonischen Mönch, weinte, den Fürst Jussupow und seine Freunde ermordet hatten. Damals war er, Wachter, 30 Jahre alt gewesen, und sein Vater Igor hatte der Zarin und den Töchtern parfümierte Taschentücher gebracht, damit sie ihre Tränen trocknen konnten. Und Silvester 1916/17, zweihundert Jahre nachdem das Bernsteinzimmer von Berlin nach St. Petersburg gebracht worden war, hatte der Zar sein letztes Fest gegeben. Und er hatte Igor Germanowitsch Wachterowskij einen Orden verliehen und zu einem Bruderkuß an sich gezogen, als habe er geahnt, daß ihn die Februar-Revolution 1917 vom Thron fegen würde, den letzten Zaren der Dynastie Romanow.
Ja, und dann – Vater Igor war an einem Lungenleiden gestorben und er, Michael Wachter, hatte mit 34 Jahren das Erbe angetreten – besuchte Lenin das Schloß, ging durch alle Säle, blieb im Bernsteinzimmer stehen, ließ den Blick fast andächtig über die schimmernde Pracht des ›Sonnensteines‹ gleiten und hatte dann zu ihm gesagt: »Ich hasse die Zaren und ihre Ausbeutung des Volkes, aber daß sie dies geschaffen haben, macht sie leider unsterblich.« Und er, Wachter, hatte geantwortet: »Das Geschenk eines deutschen Königs ist es, Genosse Lenin. Wir haben es nur gut gepflegt.«
»Und du wirst es weiter so gut pflegen.« Lenin hatte ihm die Hand gegeben, zum Erstaunen der ihn umringenden Kommissare, denn eine große Ehre war's, die Hand des großen Wladimir Iljitsch Uljanow zu drücken, dem Vater eines neuen Rußland, des bolschewistischen Arbeiter- und Bauernstaates.
Vor 21 Jahren war das. Welch eine kurze Zeit, und doch wie weit schon weg in der Erinnerung. Damals, im Jahre 1918 wurde sein Sohn Nikolaj geboren, am 17. Juli, genau an jenem Tag, an dem um ein Uhr fünfzehn in der Nacht, in der Villa Ipatiew bei Jekaterinburg, die Zarenfamilie von den Bolschewisten erschossen und in den Wäldern von Koptjakij auf einer Lichtung, die man ›Zu den vier Brüdern‹ nannte, zerstückelt und verbrannt wurde. Dem Zaren zu Ehren hatte er seinen Sohn Nikolaus getauft, keiner wußte das, noch nicht einmal Nikolaj selbst hatte er es gestanden. Ein alter Familienname ist's, hatte er
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