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Das Bernsteinzimmer

Das Bernsteinzimmer

Titel: Das Bernsteinzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Dreiviertelstunden zogen sie durch den Wald, traten hinaus auf ein weites Feld von Spätkartoffeln, über dem schreiend und krächzend ein Schwarm Krähen flatterte. Eine fahle Sonne schien und saugte die Feuchtigkeit vom letzten Regen aus den Furchen.
    Als der erste kleine, offene, braungrün gespritzte deutsche Wagen ihnen entgegenkam – es war ein sogenannter Kübelwagen, wie sie im Volkswagenwerk gebaut wurden –, hob Wechajew die Hand, und sie blieben stehen.
    Der Wagen hielt, zwei Offiziere sprangen auf die Straße, Pistolen in den Händen, während der Fahrer mit einem Maschinengewehr auf sie zielte. »Hoch!« befahl Wechajew, und wie für ein Ballett einstudiert, schnellten alle Arme in die Luft. Der erste deutsche Offizier, ein Major, lachte laut und ließ seine Pistole sinken.
    »Die Helden werden rar«, sagte er zu dem zweiten Offizier, einem Hauptmann. »Sehen Sie sich bloß diese Visagen an! Wenn das so weitergeht, werden wir in ein paar Tagen in der Newa baden können.«
    Wie zuvor der junge Panzerleutnant verstand Wechajew nun auch nichts weiter als ein Wort. Aber es genügte ihm.
    Die Newa, dachte er. Ihre Seitenarme und Kanäle, die Leningrad durchzogen. Das Venedig des Ostens. Er sah die Brücken und Brückchen in ihrer einmaligen Schönheit vor sich, die Palais der ehemaligen Fürsten und Zarengünstlinge, das Winterpalais, die Admiralität, die Kirchen und Kathedralen, den Newski-Prospekt, die breite prächtige Straße, die Eremitage, die Kais aus Granit mit ihren breiten Treppen zum Flußufer, verziert mit steinernen Löwen, Sphyngen, riesigen Vasen und Säulen mit Kugeln. Er sah den Marmorpalast, den Dekabristenplatz, die prächtige Rossistraße, in deren säulengeschmückter Häuserzeile im Jahre 1738 die erste Ballettschule Rußlands gegründet worden war, das Kirow-Theater, in dem der schon legendäre Bassist Fjodor Schaljapin gesungen hatte und Tschaikowskij sein Ballett Schwanensee uraufführte: Leningrad und die Newa, die steingewordene Schönheit, der Stolz der Jahrhunderte. Und jetzt spricht da ein deutscher Offizier von der Newa – das kann nur bedeuten, daß er die Stadt an der Newa erobern will. Mütterchen Rußland, wehre dich!
    »Ihr werdet die Stadt nie betreten!« sagte Wechajew. »Nie, solange noch ein Herz in ihr schlägt.«
    »Was sagt der Clown?« Der Hauptmann warf einen verächtlichen Blick auf Wechajew.
    »Keine Ahnung.« Der Major winkte nach hinten. Ein zweiter Kübelwagen fuhr heran. »Wegbringen, die Kerle. Zu den anderen. Feststellen, von welcher Einheit.«
    Ein Feldwebel, der dem zweiten Kübelwagen entstiegen war, winkte Wechajew energisch zu. »Los!« brüllte er. »Nicht den Schlappschwanz spielen! Hopp, hopp nach hinten!« Und dann schrie er das Wort, das jedem Russen in die Knochen fuhr: »Dawai! Dawai! Bjeschat' !« (Renn!)
    Und Wechajew setzte sich in Bewegung, rannte die Straße hinunter zu der anrückenden Marschkolonne der Infanterie, rannte an ihr vorbei, und seine Soldaten folgten ihm mit hochgestreckten Armen und keuchenden Lungen, den Blick starr geradeaus, bis jemand rief: »Stoj!« und sie stehenblieben.
    Nun waren sie Gefangene, zu Ende war für sie der Krieg. Sie konnten ihn vielleicht überleben, aber trotzdem liefen ihnen die Tränen über die verschmutzten Gesichter, und ihre Kehlen waren wie zugeschnürt.
    Aus den deutschen Wehrmachtsberichten:
    Sonntag, den 14. September 1941.
    Im Osten bahnen sich durch den günstigen Verlauf der Operationen neue Schlachtenerfolge an.
    Nachdem starke deutsche Kräfte in die Befestigungsfront von LENINGRAD eingebrochen sind, wird die enge Einschließung der Stadt trotz erbitterter Gegenwehr unaufhaltsam fortgesetzt …
    Montag, den 15. September 1941.
    Im Osten sind große Angriffsoperationen im erfolgreichen Fortschreiten.
    Die Einschließung von LENINGRAD wurde in zähem Kampf um die neuzeitlich ausgebauten Befestigungsanlagen weiter verengt. Wiederholte, von schweren Panzern unterstützte Gegenangriffe des Feindes brachen zusammen …
    Michael Wachter kroch aus dem sicheren, zwei Etagen unter der Erde liegenden Keller und bahnte sich einen Weg durch die Trümmer und Steinhaufen. Überall lagen zerbrochene Möbel, Decken hingen herunter, und in den Fußböden klafften große Risse. Mit klopfendem Herzen erreichte er den Saal, den man das Bernsteinzimmer nannte.
    Es hatte den Bombenangriff ohne Schaden zu nehmen überlebt. Kaum hatten die deutsche Flugzeuge über Puschkin wieder abgedreht, waren auch die aus

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