Das Bernsteinzimmer
der Bürgermeister von Leningrad ihm eine Blütenkette um den Hals hängte, als sei man in der Südsee, wie man ihm noch eine Medaille an den Rock heftete und der nun fast überall im Gesicht gelb gewordene Kulturfunktionär Agajew eine kurze Laudatio hielt, die in dem gehüstelten Satz endete: »Die Treue war für ihn nicht nur Maßstab, sondern Halt, aus ihr schöpfte er Kraft, auch wenn er sein großes Ziel nicht erreichte, das Bernsteinzimmer nach Puschkin zurückzuholen.«
Wachter empfand diesen Satz als eine Frechheit. Nikolaj und Jana Petrowna konnten ihn nur mit Mühe davon abbringen, in seiner Erwiderung zu sagen:
»Der Genosse Agajew hat gut zu bedauern. Wenn seine Behörde soviel Rubel für das Bernsteinzimmer ausgeben würde, wie sie für unnütze Beamte ausgibt, könnten wir vielleicht schon längst vor diesem Wunderwerk stehen.«
Er sagte es also nicht, ließ sich feiern, ließ sich küssen, schüttelte unzählige Hände und fuhr dann nach Puschkin zurück, wo ein großes Abendessen vorbereitet war.
In den vergangenen elf Jahren Frieden war viel oder wenig geschehen, je nachdem, aus welcher Ecke man es betrachtete und zu welchem Volk man gehörte. Die Städter standen noch immer Schlange vor den Geschäften. Die Kolchosen und Sowchosen erfüllten ihre Planziele, ohne daß der allgemeine Lebensstandard stieg, was so mancher nicht verstand. Aber wer genug Rubelchen besaß, ein paar Hintertürchen kannte und ein paar geheime Quellchen anzapfte, der bekam schon genug Fleisch, Eier, Speck, Krimsekt, Krimwein, grusinischen Kognak und natürlich Wodka, das Wässerchen aller Wasser. Auch Mehl hatte man, Grieß, Grütze, Zwiebeln, Gurken wie Pilze, gesäuert oder gesalzen und getrocknetes oder konserviertes Obst … Genossen, was will man mehr von dieser Welt als gut essen, gut saufen und gut schlafen neben einem warmen Frauenkörperchen! Brauchen wir den Luxus der Kapitalisten? Französische Mode und Parfüms? Englisches Golf? Oder amerikanische Steaks und Hollywood? Einen deutschen Mercedes oder Urlaub auf Mallorca? Hebt euer Gläschen, Freunde – in zehn Jahren sieht's noch besser aus. Der Welt können wir das größte Geschenk überhaupt machen: Zeit. Zeit, Genossen, haben wir genug …
Nikolajs Idee war es gewesen, die Festtafel im leeren Bernsteinzimmer aufzustellen. Die rohen, beraubten Wände hatte man mit gelbem Stoff bespannt, im Licht von vielen Glühbirnen strahlte das Deckengemälde und leuchtete der einmalige Parkettboden. Väterchen Michail saß vorn am Kopf der Tafel, und neben ihm saßen seine Enkel Peter und Janina, Janas Kinder, die sie vor neun und sieben Jahren bekommen hatte. Eine schöne, reife, viel bewunderte Frau war sie geworden, nun vierunddreißig Jahre alt, schlank geblieben und doch mit begehrten Rundungen, dort wo sie hingehörten, und wenn sie lachte und sich dabei zurückbog und Bluse, Kleid oder Pullover sich spannten, wurde Nikolaj, man gestehe es offen, von allen anderen Männern beneidet.
Eine große Überraschung erlebte Wachter an diesem Abend, als nach dem Essen eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau auf ihn zutrat, man konnte sie auf dreißig schätzen, und sich als Wassilissa Iwanowna Jablonskaja vorstellte.
»Ein schönes Geschenk bringe ich Ihnen mit aus Moskau«, sagte sie mit einer warmen Altstimme. »Mich –«
»Wie exklusiv!« lachte Wachter und hob sein Glas. »Willkommen, Wassilissa Iwanowna … aber bedenken Sie, heute bin ich siebzig geworden. Was wollen Sie mit mir noch anfangen?«
»Ihren Lebenstraum vollenden.« Sie machte eine kleine Pause und sagte dann feierlich: »Von der Zentralkommission in Moskau soll ich Ihnen mitteilen, daß die Suche nach dem Bernsteinzimmer wiederaufgenommen wird. Ich bin die Leiterin der Sonderkommission. Wir werden zusammenarbeiten, Michail Igorowitsch.«
Da stieß der alte Wachter einen Jauchzer aus wie ein Bayer, drehte sich einmal um sich selbst und warf sein Glas gegen die Wand.
Und alle Gäste lächelten und dachten: Na, Alterchen, geht dir der Wodka zu schnell ins Hirnchen? Und viele Gläser flogen seinem Glas nach.
Nicht in Moskau, sondern letztlich in Peking war Fred Silverman gelandet, immer noch weitab vom Schuß. General Walker, seit drei Jahren in Pension, hatte seinen problematischen Major zunächst tatsächlich nach Neuseeland geschickt, auf einen Posten, wo er völlig kaltgestellt war. Gemäß der uralten, aber immer wieder sich bestätigenden Wahrheit, daß die Zeit alle Spuren verwischt, gibt es
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