Das Bernsteinzimmer
Petrowna in ihrem Erdhöhlenversteck. Dann wagte sie sich ins Freie, wusch sich gründlich in einem kleinen Bach und bürstete den Dreck, so gut es ging, aus ihrer Schwesterntracht. Sie ließ den Militärmantel zusammengeknüllt in der Höhle zurück, zog das Fahrrad aus dem Gebüsch und schob es auf die Straße. Das war der gefährlichste Teil ihres Planes, aber sie hatte Glück. Auf der Straße war kein einziges deutsches Fahrzeug, kein einziger deutscher Soldat zu sehen. So friedlich, wie ein schöner Herbsttag sein kann, stand der Wald unter einer noch wärmenden Sonne.
Sie schwang sich auf den Sattel, setzte ihre Schwesternhaube auf, hängte eine große Tasche aus braunem Wachstuch an die Lenkstange und fuhr den gleichen Weg, den auch Wechajew gefahren war.
Zurück nach Puschkin. Zurück zum Katharinen-Palast. Und während sie kräftig in die Pedale trat, schwirrten viele Gedanken durch ihr Gehirn.
Lebte Väterchen Michail noch? War das Schloß zerstört worden? Hatte man die Schätze geplündert? Wer wohnte jetzt in den Prunkräumen? Würde man ihr die Geschichte, die sie erzählte, glauben und sie im nächsten Lazarett arbeiten lassen? Was war aus Nikolaj, ihrem Liebsten, geworden? Mit dem letzten Lastwagen voller wertvoller Vasen, Schmuckstücke, Möbel und Teppiche, mit Gemälden aus zwei Jahrhunderten und persönlichen Andenken der Zarinnen und Zaren hatte er Zarskoje Selo verlassen und sollte sie in Leningrad in Sicherheit bringen. Hatte er es geschafft? Hatte er Leningrad erreicht, oder war er von deutschen Bomben und Granaten zerfetzt worden? Ob es Väterchen Michail wußte … wenn er noch lebte? Gab es noch das Bernsteinzimmer …?
Nach zwei Stunden einsamer Strampelei kamen ihr die ersten deutschen Truppen entgegen. Ein Infanterie-Bataillon, wie auf dem Marsch zu einem Manöver. Die Kompaniechefs ritten zu Pferde voraus. Der Kommandeur, ein Major, saß zusammen mit seinem Adjutanten und einem Stabsarzt in einem Kübelwagen, erst dann folgten die Autokolonnen mit dem Troß, der Schreibstube, der Feldküche und dem Material. Kein Spähtrupp war ihnen vorausgefahren, so sicher fühlten sie sich.
Ein merkwürdiges, das Herz zusammenschnürendes Gefühl war's, zum erstenmal deutsche Soldaten zu sehen. Nur für einen Moment zuckte Angst durch Jana Petrownas Körper beim Anblick der langen, grauen Kolonne, doch dann beugte sie sich über das Lenkrad und strampelte unbeirrt weiter. In ihren Adern klopfte das Blut. Würde man sie anhalten? Würde man fragen, woher sie kam?
Ganz rechts fuhr sie auf der Straße, der Kübelwagen des Majors verlangsamte sein Tempo, der Fahrer grinste breit und warf ihr mit gespitzten Lippen ein Küßchen zu. Verwundert lehnte sich der Stabsarzt aus dem offenen Wagen. Der Major tippte ihm auf den Ärmel.
»Doktor, nicht wild werden!« Er lachte kurz und musterte die auf sie zuradelnde Jana. »Lassen Sie das Karbolmäuschen in Ruhe. Wir haben keine Zeit.«
Der Stabsarzt lehnte sich wieder in den Sitz zurück und schüttelte den Kopf.
»Wo kommt sie her, Herr Major?« fragte er verblüfft. »Ja, verdammt, von wo kommt sie? Vor uns ist kein Lazarett, nur ein vorgeschobener Truppenverbandsplatz.«
»Das wird es sein.«
»Auf gar keinen Fall! Unmittelbar hinter der kämpfenden Truppe arbeiten nur Sanitäter und Ärzte. Rote-Kreuz-Schwestern tauchen erst in der Krankensammelstelle auf, und die ist hinter uns. Und sie sitzt auf einem Fahrrad, als fahre sie fröhlich zum nächsten Krankenhaus.«
»Doktor, Sie suchen nur nach einem Grund, mit ihr anzubandeln. Nein, ich lasse nicht halten.« Der Major lachte wieder und winkte Jana zu, als sie an ihr vorbeifuhren. »Verdammt! Wirklich ein hübsches Mäuschen …«
Jana Petrowna winkte zurück, lachte zu ihnen hinüber und trat, so kräftig sie konnte, in die Pedale. Als sie an den Soldaten vorbeikam, empfingen sie schrilles Pfeifen und laute Zurufe. »Schwester, ich habe einen Tripper –« hörte sie aus dem Gejohle heraus. »Schwesterchen, wo hast du die Sanierungsspritze? Mich juckt's, mich juckt's … komm her und sieh mal nach …« Und als sie an der Feldküche vorbeikam, wedelte der Koch, der auf der Protzenbank hockte, mit einem langen hölzernen Kochlöffel und brüllte: »Tausche 'nen Schlag Suppe gegen einmal Hopp-hopp …«
»Haben Sie das gesehen, Herr Major –« sagte der Stabsarzt erregt. »Ihr Kleid ist voller Flecken! So läuft doch eine deutsche Schwester nicht herum! Da stimmt doch was nicht! Wir sollten sie
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