Das Bernsteinzimmer
der hinter Wachter stand, hieb mit dem Knauf seines Seitengewehres, weit ausholend, dem anscheinend Verrückten auf den Kopf, zweimal hintereinander, während die anderen Soldaten aus ihren Sesseln und Kanapees hochzuckten.
Michael Wachter spürte den zweiten Schlag schon nicht mehr. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn bis hinunter zu den Zehen. Jetzt bin ich tot, konnte er noch denken, dann fiel er in eine bodenlose Schwärze, in der es kein Denken mehr gab.
In ihrer Erdhöhle wartete Jana Petrowna auf das Erscheinen der deutschen Truppen. In einem dichten Gebüsch hatte sie das Fahrrad versteckt, das ihr der Adjutant von General Sinowjew gegeben hatte, ein ziemlich verwirrter Major, der nicht verstehen konnte, warum man eine Spionin nicht sofort erschoß, sondern ihr sogar ein Fahrrad gab, damit sie fliehen konnte. Aber frage einer mal einen General nach dem Sinn seiner Befehle … Genossen, wer wagt das schon?
Außerdem waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, das Hauptquartier der Division in dem kleinen, verträumten Jagdschlößchen zu räumen. Die deutsche Artillerie schoß in die zurückgehenden Rotarmisten hinein, Panzervorstöße schlugen große Lücken in die Verteidigungsstellungen, selbst Gegenangriffe der gefürchteten sowjetischen Panzer T 34 brachen im Feuer der neuen deutschen Panzerabwehrgeschütze, kurz PAK genannt, zusammen. Die Stukas und schweren Heinkel-Bomber luden ihre tödliche Fracht über den Dörfern und kleinen Städten ab, überall loderten Brände, und der Himmel war dunkel vom Rauch der Zerstörung.
General Sinowjew hatte von seinem Kunstrettungstrupp nichts mehr gehört. Die Verbindung zu Unterleutnant Wechajew war abgerissen. Er wartete auch gar nicht mehr auf eine Nachricht, die Meldungen von der Front sagten ihm, daß die kleine Kolonne direkt in die Arme der vorpreschenden deutschen Panzer gefahren sein mußte. Die auf der Karte abgesteckten feindlichen Positionen zeigten ihm, daß Wechajew keine Chance mehr gehabt hatte, den Deutschen auszuweichen oder zu fliehen. Aus Leningrad war außerdem der Befehl gekommen, sich auf den äußeren Verteidigungsgürtel zurückzuziehen. Dort gruben noch immer Tausende von Frauen, Pionieren und alten Männern die Schützengräben, gossen mit Beton neue Panzersperren, verstärkten die Bunker, stützten die Unterstände ab, und sogar halbwüchsige Kinder schleppten Säcke und Steine, Balken und Bretter, um einen Wall gegen die Aggressoren zu bauen.
Stalins ›Kronprinz‹ Andrej A. Schdanow, Mitglied des Politbüros, war nach Leningrad gekommen und hatte als neuer Leiter der Leningrader Parteiorganisation das Oberkommando der Verteidigung übernommen. In einem Aufruf verkündete er:
»Entweder wird die Arbeiterklasse Leningrads versklavt und ihre schönste Blüte vernichtet werden, oder wir graben dem Faschismus vor Leningrad das Grab.«
Die gesamte Bevölkerung sollte deshalb bewaffnet werden. Sie sollten im Handgranatenwerfen und Straßenkampf ausgebildet werden, Straße um Straße, Haus um Haus sollten sich in eine Festung verwandeln, an der sich der Feind verbluten würde. Wenn die Deutschen Leningrad schon eroberten, dann nur unter Strömen von Blut. Auch Marschall Schukow erließ am 17. September an alle Kommandeure der zur Verteidigung von Leningrad eingesetzten sowjetischen Armeen den Befehl, keinen Meter mehr den Faschisten zu überlassen. »Jegliche Absetzbewegung betrachte ich ab sofort als Verbrechen gegen das sowjetische Vaterland«, ließ er verkünden. »Diese Ehrlosen werden zum Tode verurteilt.«
Überall, vor allem im Süden der Stadt, wo von den Deutschen die größte Gefahr drohte, nachdem sie Puschkin erobert hatten, entstanden Stacheldrahthindernisse und kleine Betonbunker, die man ›Woroschilow-Hotels‹ nannte. Deutsche Flugzeuge warfen über der Stadt gefälschte Lebensmittelkarten und Rubelscheine ab und Flugblätter, auf denen stand, daß man alle schonen würde, die ihre Kommandanten töteten und sich ergaben. Polizeistreifen durchkämmten die Straßen, wer mit solch einem Flugblatt gefaßt wurde, konnte auf der Stelle erschossen werden.
1,5 Millionen Menschen waren bereit, Rußlands schönste Stadt mit ihren Leibern vor den Deutschen zuzumauern.
Jana Petrowna hörte am frühen Morgen des 17. September das Rasseln der Panzerketten auf der Waldstraße. Die Angriffsspitzen der Panzer-Gruppe 4 unter Generaloberst Hoepner hatten sie erreicht. Der Ring um Leningrad war geschlossen.
Noch zwei Tage blieb Jana
Weitere Kostenlose Bücher