Das Bernsteinzimmer
Kanülen haben. Wenn sterilisiert wird, stehen kaum noch Spritzen zur Verfügung. Trotz Bitten der Stationen erfolgte bisher nichts! Ich verlange sofortige Zuweisung neuer Spritzen oder mache Meldung, daß die nötige Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet ist. Frieda Wilhelmi, Oberschwester.«
Nur mühsam kam Jana voran, bei jedem dritten Wort vertippte sie sich, suchte nervös Buchstabe nach Buchstabe zusammen, schrieb die Wörter mal groß, mal klein und legte dann, am Ende des Diktats, die Hände in den Schoß. Sie sah aus, als wollte sie gleich weinen.
Frieda wuchtete sich von ihrem Stuhl, rollte auf Jana zu, blickte ihr über die Schulter und stieß einen grunzenden Laut aus.
»Immerhin, man kann's lesen«, sagte sie sanft. »Und nun, mein Kind, schreibst du das Ganze noch mal säuberlich ab. Du wirst sehen: Morgen geht es schon besser.«
»Bestimmt, Oberschwester.« Jana riß das Blatt aus der Maschine. »Darf ich hier in Ihrem Zimmer üben … nach der Dienstzeit? Ich … ich will Sie nicht enttäuschen.«
»Natürlich darfst du das.« In Frieda Wilhelmis Herz schien eine bisher verrammelte Tür aufgeschlossen worden zu sein. Mit ihrer dicken, schweren Hand streichelte sie Jana über den Kopf, grunzte erneut und rollte dann zu ihrem Schreibtisch zurück. »Du wirst auch nicht im Schwesternbau schlafen, sondern im Zimmer nebenan. Das ist eine Art Magazin, das Badezimmer ist direkt daneben.«
»Danke, Oberschwester«, sagte Jana gehorsam. Ein Zimmer ohne Beobachtung, dachte sie dabei. Kein Dienst auf der chirurgischen Station. Schnell wird es sich rumsprechen, daß ich nur für die Oberschwester arbeite. Beneiden wird man mich, oder auch nicht, aber ein Hauch von Autorität wird auch auf mich fallen. Niemand wird mich kontrollieren. Unter ihrem Schutz stehe ich. Gott im Himmel, du hast mir wirklich geholfen.
Auf der chirurgischen Station II hatte sich erwartungsvolle Spannung ausgebreitet. Der Rothaarige in der Verwaltung hatte sofort, nachdem Jana Petrowna das Büro verlassen hatte, in der Chirurgie angerufen und bekam ausgerechnet Dr. Phillip an den Apparat. Dr. Hans Phillip, mit seinen 28 Jahren noch sehr jungenhaft aussehend, mit rötlichblonden Haaren und einem sportlichen Körper genau der Typ des modernen Germanen, wie man ihn in den Illustrierten abgebildet sah und wie der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, sie in extra dafür eingerichteten Zuchtanstalten, genannt ›Lebensborn‹, als neue deutsche Rasse züchten wollte, war der von allen geliebte Arzt in den Städtischen Krankenanstalten. Seine Abenteuer waren ›grenzüberschreitend‹: Nicht nur in der Chirurgie bekamen die Schwestern blanke Augen bei seinem Anblick, sondern auch in der Inneren, der Gynäkologie, der Pädiatrie und bei HNOlern gab es Schwestern, die ihn verfluchten und haßten und dennoch immer noch heimlich liebten. Ein Oberarzt der Röntgenabteilung hatte Phillip sogar schon einmal Schläge angedroht, ein Kollege von der Gynäkologie war noch weiter gegangen und hatte ihn zum Duell gefordert, auf Pistolen, draußen auf der Nehrung vor dem Haff an der Ostsee, aber da Duelle im Dritten Reich verboten waren ebenso wie das Pauken der Studenten, das Säbelfechten mit Mensuren, und alle schlagenden Studentenverbindungen aufgelöst worden waren, kam es nicht zu einer Begegnung zwischen den beiden Ärzten. Die Aufforderung, das Duell heimlich auszutragen, beantwortete Dr. Phillip mit großer Geste: »Wenn ich verwundet werden soll, dann nur an der Front! Aber doch nicht wegen eines Mädchens … ich bitte Sie.«
Dr. Phillip, im Range eines Unterarztes, hörte interessiert zu, was der Rothaarige zu berichten hatte.
»Sie stellt sich gleich vor?« fragte er mit freudiger Stimme. »Bildhübsch, sagen Sie? Pechschwarze Haare und ebensolche Augen? Und was Anständiges in der Bluse? Kommt von der Front bei Leningrad? Danke, Robert … dann ist die Kleine ja nahkampferfahren. Bei Frieda ist sie jetzt? Danke für den Tip. Ich werde mich doch noch zum Drachentöter qualifizieren.«
Der Chef der Chirurgie, Stabsarzt Dr. Pankratz, war noch nicht im Haus. Er hatte am vergangenen Tag bis gegen Mitternacht operiert. Ein Lazarettzug war angekommen, und neun Sankas hatten Schwerverwundete zum Krankenhaus gebracht, von denen fast die Hälfte sofort versorgt werden mußte. Sie kamen ohne Zwischenaufenthalt direkt von der Leningrader und Wolchow-Front, mit durchgebluteten Verbänden, eiternden Wunden, hohem Fieber … neun Wagen voll
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