Das Bernsteinzimmer
Kapitulation an, und von diesem Tag an lief der Betrieb in der Chirurgie wieder im normalen Gleis.
»Ist die Frage erlaubt, ob wir in Kürze mit der neuen Mitarbeiterin rechnen können?« fragte Dr. Phillip gepreßt. Es fiel ihm schwer, seine Wut über diese Erniedrigung zu verbergen.
»Nein! Rechnen Sie nicht damit. Haben Sie nicht gehört: Ich habe umdisponiert.«
Dr. Phillip begriff, daß er hiermit die Aufforderung erhalten hatte, das Zimmer zu verlassen. Er drehte sich um, warf noch einen Blick auf Jana, deren große schwarze Augen ihn musterten, und verließ dann grußlos das Zimmer. Hinter sich ließ er die Tür laut ins Schloß fallen, als sei sie ihm aus der Hand geglitten.
»Flegel!« sagte Frieda dröhnend. Dr. Phillip mußte es draußen im Flur noch gehört haben.
»Wer war denn das?« fragte Jana Petrowna und lächelte verlegen. Sie begriff nun, was der Sanitäter Bludecker gesagt hatte und daß alle im Haus Angst vor Frieda Wilhelmi hatten.
»Das war Dr. Phillip. Der berüchtigte. Der Bursche, der in dem Wahn lebt, der Mann sei die Krone der Schöpfung.« Frieda klappte die Akte wieder auf. »Übe weiter, mein Kind. Kümmere dich nicht um ihn. Und wenn er dir auflauert, sag es mir sofort. Alles, was einen Rock trägt, ist nicht sicher vor ihm.«
Jana Petrowna nickte und schrieb weiter, suchte die Buchstaben und klapperte mühsam den Übungstext ab. Die Gefahr, die von Dr. Phillip ausging, erkannte sie klar. Sie ahnte, daß er ab jetzt ihre Nähe suchen würde, daß er sie beobachtete und ihr nachging, daß er alles versuchen würde, um mit ihr in Kontakt zu kommen. Von heute an war sie nur sicher im Umkreis von Frieda Wilhelmi, und sie wußte jetzt, daß alles, was noch kommen konnte, abhängig war von dem unerwarteten mütterlichen Wohlwollen und der rätselhaften Zuneigung von Oberschwester Wilhelmi. Es war ihr, als sei sie ein Tier, das in eine warme schützende Höhle gekrochen war, um zu überleben. Sie hatte nun ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl, einen Tisch und eine Stehlampe nebenan im Magazin. Sie hatte zu essen und zu trinken, sie hatte Wärme, wenn es Winter wurde, und sie hatte eine Beschützerin. Blieb alles so, wie es jetzt war, konnte man sicher das Ende des Krieges erwarten.
Und in ein paar Tagen sah sie Väterchen wieder. Im Schloß war er jetzt, bei seinem Bernsteinzimmer, treu dem Schwur, den sein Urahne vor seinem König geleistet hatte: Wo das Bernsteinzimmer ist, wird auch ein Wachter sein.
Gott im Himmel, laß Nikolaj Michajlowitsch in Leningrad überleben. Und einen Sohn zeugen müssen wir auch. Solange es das Bernsteinzimmer gibt, muß es auch einen Wachter geben.
»Woran denkst du, Kind?« Friedas Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
»Ich mag diesen Dr. Phillip nicht, Oberschwester.«
»Sag dir das immer vor.« Frieda Wilhelmi blickte auf die Uhr an der Wand. Das Mittagessen wurde in Kürze ausgetragen, eine sehr wichtige Stunde für sie und alle Menschen im Krankenhaus. »Und denk nicht mehr an ihn … er ist wirklich keinen Gedanken wert.«
Bereits am nächsten Tag, um zehn Uhr vormittags, fand die erste Besprechung zwischen Gauleiter Koch, Dr. Findling, Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters statt. Wie immer war auch Bruno Wellenschlag anwesend, obgleich er keinerlei Ahnung hatte, saß mit am Tisch und hörte schweigend zu. Ein Zeuge, den Koch bewußt hinzugezogen hatte, um später gegenüber Hitler, Bormann, von Ribbentrop und Rosenberg abgesichert zu sein.
Zwar lag aus dem Führerhauptquartier im voraus die Zusage vor, das Bernsteinzimmer in Königsberg aufzubauen, aber es bedurfte nur eines Fingerzeiges von Bormann, und die Lage änderte sich grundsätzlich.
Dr. Findling erschien etwas blaß und sichtlich angeschlagen zu dieser Konferenz. Großvaters Salatöl hatte zwar das Sodbrennen und die Übelkeit ferngehalten, aber die Alkoholschwere im Kopf konnte es nicht besiegen. Den anderen Herren schien es ähnlich zu gehen, bis auf Koch, der so munter und frisch war, als hätte er zwölf oder mehr Stunden geschlafen und nur Wasser getrunken. Er hatte in seiner Wohnung im Schloß übernachtet und war nicht hinaus zu seiner prunkvollen Villa gefahren, einem Prachtbau, der den Unwillen der Bevölkerung herausgefordert hatte, einen stillen, stummen, unterdrückten Unwillen natürlich, denn Kritik am Gauleiter wäre eine Brüskierung gewesen, die Koch sofort mit allen brutalen Mitteln bestraft hätte. Der ›König von Ostpreußen‹ duldete keinen
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