Das Bernsteinzimmer
zum Zimmer der Oberschwester. Frieda Wilhelmi war noch nicht da, sie setzte sich artig auf einen Stuhl in der Ecke und wartete.
Pünktlich um halb neun ging die Tür auf und ein beweglicher, massiger Turm rollte ins Zimmer. Der Turm war mit einer Schwesterntracht behängt und trug oben einen Kopf mit einem bebrillten Gesicht. Hellblaue Augen musterten kurz die sofort aufspringende Jana, dann rollte der Turm zum Schreibtisch und fuhr Arme aus, die sich auf die Tischplatte stützten. Schon dieser erste Anblick genügte, um in Jana eine alarmierende Angst aufkommen zu lassen. Das war eine Frau, gegen die niemand ankam, die nichts erschüttern konnte, die gewohnt war, zu herrschen, die nichts anderes erwartete als Unterwürfigkeit.
»Was ist?!« fragte sie kurz.
Jana zuckte zusammen und starrte den Fleischberg an. Welch eine Stimme, dachte sie überrascht. Eine angenehme, tiefe, klangvolle Stimme mit einem leicht singenden Ton. Vertrauen konnte man zu ihr haben, man mußte nur die Augen schließen …
»Welche Station?«
»Noch gar keine, Oberschwester.«
»Wie bitte?«
»Ich soll mich hier melden.« Jana holte das selbstausgefüllte Formular aus der Wachstuchtasche und hielt es Frieda Wilhelmi hin. Mit größter Anstrengung versuchte sie, das leichte Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. Jetzt entscheidet sich alles, dachte sie. Jetzt kann nur noch Gott helfen … falls er gegen Frieda eine Chance hat. »Ich komme von der Front. Von Leningrad.«
»Von der Front!« Frieda Wilhelmi warf wieder einen Blick über Jana, ein Blick, der sie vollkommen umfaßte und wie ein Dorn in sie einzudringen schien. »Leningrad!« Frieda nahm das Formular an sich, überflog es und warf es dann auf ihren Schreibtisch. »Papiere …«
»Ich habe nur diese Einsatzbescheinigung.«
»Sie müssen doch Papiere haben. Ihren DRK-Ausweis, ein Überstellungsschreiben …«
»Ich habe nichts, Oberschwester. In den Hauptverbandsplatz schlugen drei schwere Granaten ein. Eine mitten in unsere Wohnbaracke. Alles wurde vernichtet und verbrannte. Das war eine Stunde, bevor ich abfahren mußte. Nur meine Tasche ist übriggeblieben, weil ich sie bei mir hatte.«
Frieda Wilhelmi nahm das Formular vom Tisch, las es noch einmal und zuckte dann mit den dickfleischigen Schultern. Jana atmete innerlich auf. Ein Schulterzucken ist eine halbe Kapitulation.
»Man hat Sie also uns zugewiesen?« sagte der Turm und warf das Papier wieder auf den Tisch zurück. »Waren Sie schon bei der Verwaltung?«
»Nein. Ich wollte mich erst bei Ihnen melden, Oberschwester.«
Frieda nickte, fand nach dieser Antwort das Mädchen sympathisch und setzte sich auf einen breiten Stuhl, der unter ihrer Körpermasse verschwand.
»Da müssen Sie gleich hin, Schwester Jana. Sonst gibt's kein Geld.« Wieder dieser forschende, in die Tiefe dringende Blick. »Wo steck ich Sie hin? In einem Hauptverbandsplatz waren Sie? Da kommt nur die Chirurgie in Frage. Davon haben Sie ja Ahnung. Wir sind hier das größte Heimlazarett. Ich bringe Sie nachher zum Chef, Dr. Pankratz. Stabsarzt Dr. Pankratz. Er jammert immer wieder nach einer guten Fachschwester. Gehen Sie jetzt zur Verwaltung und kommen Sie dann zu mir zurück.«
»Jawohl, Oberschwester.«
Frieda Wilhelmi blickte Jana nach, als sie das Zimmer verließ. Ein hübsches Mädchen, dachte sie. Ein gut erzogenes Mädchen. Ein offener Blick und noch nicht verdorben. Das sieht man sofort. Man wird auf sie aufpassen müssen, daß sie nicht unter die Räder kommt. Ich werde mich selbst um sie kümmern. Jana Rogowskij. Geboren in Lyck … das liegt in Masuren, dicht an der russischen Grenze. Schlag den Ärzten und anderen auf die Pfoten, wenn sie Griffe kloppen wollen. Ich paß auf dich auf, Jana.
In der Verwaltung, Abteilung Personalbüro, saß ein rothaariger, jüngerer Mann und hatte neben dem Tisch sein rechtes Bein lang ausgestreckt. Erst beim zweiten Blick sah Jana, daß es eine Prothese war. Der Mann nickte und schob sich etwas auf dem Stuhl zurecht.
»Frankreich«, sagte er. »Sturm auf die Maginotlinie, Granatsplitter. Hat glatt den Knochen oberhalb des Knies durchschlagen.« Er streckte die Hand aus und nahm das Formular ab. »Sie wollen bei uns arbeiten?«
»Ich bin hierher abkommandiert.« Jana Petrowna war jetzt sicherer geworden. »Oberschwester Frieda schickt mich zu Ihnen. Ich soll auf der Chirurgie anfangen. Es ist alles geklärt, auch wegen der fehlenden Papiere. Ich komme von der Leningrad-Front.«
»Aha!« Der
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