Das Bernsteinzimmer
rothaarige Mann musterte Jana, als wollte er ein Kalb kaufen. »Wenn Frieda das sagt, ist ja alles in Ordnung.« Er wedelte mit dem Formular durch die Luft. »Das ist alles, was Sie haben?«
»Genügt das nicht?«
»Erraten. Aber wenn Frieda damit einverstanden ist … gut, ich trage Sie in die Personalliste ein.« Der Rothaarige steckte das Formular in eine blaue Mappe. »Aber sorgen Sie dafür, daß die fehlenden Papiere wieder beschafft werden.«
»So schnell wie möglich.« Sie wartete vor dem Tisch, aber die Einstellung schien damit beendet zu sein. »Wie ist Oberschwester Frieda?« fragte sie.
»Kennen Sie den Drachen, den Siegfried erschlug? Leider können wir Frieda nicht erschlagen … es meldet sich kein Siegfried.«
»So schlimm?«
»Ohne Frieda läuft hier nichts. Sie sieht, hört und riecht alles. Wenn sie sagt, Sie sind eingestellt, dann sind Sie's auch! Ich werde mich hüten, anders zu entscheiden wegen Ihrer fehlenden Papiere.« Er verzog sein Gesicht und fügte dann sehr ironisch hinzu: »Viel Freude an der Arbeit, Schwester. Eine Woche im Schützenloch ist gemütlich gegen einen Tag mit Frieda. Aber der Laden läuft mustergültig – das ist die andere Seite.«
Eine halbe Stunde später klopfte Jana wieder am Zimmer der Oberschwester an. Ein knurrendes »Ja« hieß ›Eintreten‹. Frieda Wilhelmi hob den Kopf und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Als Jana saß, kam sie sich vor wie ein armer Sünder vor dem Hohen Gericht.
»Mein Kind –« Wieder diese warme, gar nicht zu dem Fleischturm passende Stimme, und dann noch ›mein Kind‹, eine fast mütterliche Vertraulichkeit, die Jana Petrowna sogar körperlich spürte. »Bevor wir zu Stabsarzt Dr. Pankratz gehen, noch ein nötiges, ernstes Wort: Ich mag keine Liebschaften in meinem Haus.«
Sie sagte ›mein Haus‹, und sie ließ damit erkennen, daß ihr nichts verborgen blieb. Jana nickte gehorsam.
»Das kommt bei mir nicht vor, Oberschwester.«
»Ach Gott, das sagen sie alle. Ich bin verlobt, ich will kein flüchtiges Abenteuer, dafür bin ich mir zu schade und tausend andere Beteuerungen. Und dann fallen Sie Dr. Phillip in die Hände, und alles ist vergessen.«
»Sie warnen mich vor Dr. Phillip?«
»Auch. Der ist nur ein Beispiel. Alle Männer sind verrückt, wenn sie so ein Mädchen wie Sie sehen.«
»Bitte, Oberschwester, sagen Sie du zu mir.«
Das war ein geschickter Schachzug. Frieda warf einen wohlwollenden Blick in Janas Augen und lächelte sogar. »Leben deine Eltern noch?« fragte sie.
»Nein. Mutter starb 1938 an Krebs, und mein Vater …« Jana gelang es, ihr Gesicht zucken zu lassen. »Vater … ist in Frankreich vermißt. Aber ich fühle, daß er nicht wiederkommt. Ich spüre es.«
»Kannst du Schreibmaschine schreiben?«
»Sehr schlecht, Oberschwester.«
»Das kann man lernen. Alles kann man lernen, wenn man will und etwas Grips im Kopf hat. Du wirst Schreibmaschine lernen.«
»Jawohl, Oberschwester.«
»Ab sofort. Hier bei mir.« Frieda zeigte auf eine mächtige Adler-Schreibmaschine mit einem breiten Wagen, in den man auch Listen einspannen konnte. »Übung ist alles. Übung!« Der Turm warf wieder einen wirklich mütterlich zu nennenden Blick auf Jana Petrowna und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Schreibmaschine. »Setz dich dorthin, mein Kind, und fang an.«
»Aber … Oberschwester …« Jana erhob sich, setzte sich auf den Stuhl hinter die Maschine und starrte hilflos auf die Tastatur. »Ich habe nur zweimal … mit zwei Fingern … nur aus Spaß bei meinem Vater …«
»Papperlapapp! Jeder kann Maschine schreiben! Heute zwei Finger, morgen vier Finger, in einem Monat alle zehn … Üben … Üben …« Frieda Wilhelmi nickte Jana aufmunternd zu. Und dann sagte sie etwas, was die gesamte Situation veränderte, was schicksalhaft für Jana werden sollte: »Ich schicke dich nicht auf Station, ich hab's mir anders überlegt, die Chirurgie hat genug Pfleger und Schwestern. Du bleibst bei mir und erledigst den ganzen schriftlichen Kram. Bisher hat das ein Mädchen aus dem Sekretariat getan. Sie wird dir noch so lange helfen, bis du allein arbeiten kannst. Einverstanden, mein Kind?«
»Selbstverständlich, Oberschwester.«
»Spann ein Blatt Papier ein und schreib –« Frieda wartete, bis das Papier eingezogen war, und diktierte dann ganz langsam: »Aktennotiz. An die Apotheke im Hause. Ich habe festgestellt, daß die Stationen zwei, sechs und sieben nicht genügend Spritzen und
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