Das Bernsteinzimmer
beide Hände flach auf sein Herz.
Töchterchen, ich grüße dich.
Dr. Runnefeldt hatte unterdessen den Kopf geschüttelt. »Ein Unfall? Hier bei uns? Nicht daß ich wüßte. Haben Sie eine Ahnung davon, Dr. Findling?«
»Nein. Hier ist keiner verletzt. Vielleicht unten bei den Wagen?«
»Das wüßten wir.« Dr. Runnefeldt kam einen Schritt auf Jana zu. Bedauern lag in seiner Stimme. »Es kann sich nur um einen dummen, aber gemeinen Scherz handeln, Schwester.« Erstaunen stieg plötzlich in seine Augen. Mit schräg gelegtem Kopf musterte er Jana genauer. »Kennen wir uns nicht?«
»Nein. Bestimmt nicht.«
»Wir sind uns noch nicht begegnet? Ich habe mich bisher noch nie geirrt. Und ein gutes Personengedächtnis habe ich. Irgendwoher kenne ich Sie …«
»Vielleicht von der Front? Ich habe im Hauptverbandsplatz gearbeitet. Vor Leningrad.« Sie sagte es so sicher und bestimmt, daß keine Zweifel aufkommen konnten. »Waren Sie an der Front?«
»Nein. Zum erstenmal irre ich mich. Verzeihen Sie, Schwester. Mein Name ist Runnefeldt.«
»Findling –« schloß sich Dr. Findling mit einer kleinen Verbeugung an. »Wie gesagt: Hier gibt es keinen Unfall.«
»Dann ist es wirklich ein übler Scherz.« Sie warf noch einen schnellen Blick auf Wachter und drückte ihre Einsatztasche an sich. »Wie komme ich jetzt wieder hinaus? In diesem Schloß kann man sich ja verlaufen.«
»Kein Problem, Schwester.« Wachter trat vor und sah mehr Dr. Runnefeldt als Jana an. »Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Kommen Sie mit.«
»Danke. Verzeihen Sie mein Eindringen, aber ich kann ja nichts dafür.« Sie drehte sich um und ging aus dem Saal, Wachter nach, der ihr vorauslief. Auf dem Flur waren sie allein. Mit schnellem Griff faßte Wachter ihre Hand, zog sie in ein Zimmer mit Bildern von Liebermann und Modersohn-Becker und riß sie mit einem Aufschluchzen in seine Arme.
»Töchterchen …« stammelte er. »O mein Töchterchen. Nun sind alle Sorgen fort. Wo lebst du? Wo hast du dich versteckt? Hast du Hunger? Brauchst du Geld? Eine neue Tracht hast du ja an. Wo hast du sie gestohlen? O Töchterchen, wie glücklich bin ich …«
Eine Weile standen sie so engumschlungen im Liebermann-Zimmer, sprachen nach den ersten gestammelten Worten keinen Ton mehr, sondern gaben sich ganz dem Glück des Wiedersehens hin. Nur ein paar Tage waren sie getrennt gewesen, aber für Michael Wachter war es in Puschkin ein Abschied geworden, eine unbekannte Zukunft lag vor ihm, die kein Wiedersehen einschloß. Nun lagen seine Arme um Jana Petrowna, hier war sie, in Königsberg, im Schloß, so etwas wie ein Wunder war's, das über einen hereinbricht und einen stumm werden läßt.
Erst als Wachter wieder durchatmen konnte, ließ er Jana los, und sie konnte sagen:
»Väterchen, eine gute Stelle habe ich. Hier, im Städtischen Krankenhaus. Bin die Sekretärin der Oberschwester. Eine ehrenhafte Stelle. Habe ein eigenes Zimmer, bekomme ein Gehalt und freies Essen, werde von der Oberschwester Frieda beschützt wie eine Ikonensammlung, lerne Schreibmaschine, kann mich überall frei bewegen, kann in ein Kino gehen, ins Theater, in ein Café, ein Restaurant – wie ein normaler deutscher Bürger lebe ich … und ich trage eine Uniform, die mich vor allen Kontrollen schützt. Eine eigene Uniform, Väterchen, keine gestohlene wie die erste, und einen Ausweis habe ich, eine Kennkarte, Lebensmittelkarten, Tabakkarten, Sonderzuteilungen –« sie breitete die Arme aus und drehte sich um sich selbst – »ich bin ein vollgültiger Mensch! Und du, Väterchen?«
»Der Gauleiter und der Museumsdirektor Dr. Findling haben mich für das Bernsteinzimmer angestellt. Ich bewache und betreue es weiter.«
»Dann hat sich ja nichts geändert!«
»Nur der Ort, Töchterchen. Der Ort … und das ist eine Änderung, die uns noch viel zu schaffen machen wird. Wer weiß, wie der Krieg ausgeht?! Alle hier reden vom Sieg der Deutschen …«
»Du bist doch ein Deutscher, Väterchen.«
»Ja, das bin ich. Ein Preuße bin ich, wie meine Ahnen … aber ich bin nicht ein Deutscher wie die vielen heute, die sich Deutsche nennen. Die Endsiegglauber, die Heilrufer, die Hitlerhörigen, die Übermenschen, vor denen alle anderen nur Untermenschen sind, vor allem ihr, die Slawen, die Völker des Ostens. Was ich in den letzten Tagen alles gehört habe. Töchterchen, man müßte sich schämen, ein Deutscher zu sein und zu ihnen zu gehören.«
Einen Augenblick dachte Jana an Julius Paschke und
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