Das Bernsteinzimmer
zu, das gleiche zu tun.
»Warum haben die Russen Sie nicht gezwungen, die deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben?« begann er das Gespräch, das mehr einem Verhör glich. »Wieso ist ausgerechnet ein Deutscher der Bewacher des Bernsteinzimmers?«
»Es ist durch einen Vertrag von 1716 geregelt, Herr Gauleiter.«
Wachter war auf der Hut. Er überlegte jedes Wort genau, bevor er es aussprach. Nur ein kleiner Fehler, eine winzige Unaufmerksamkeit konnte sein Ende bedeuten – darüber war er sich absolut im klaren.
»1716 …« Koch lehnte sich zurück, faltete die Hände über seinem Bauch und musterte Wachter wieder mit durchdringenden Blicken. »Und daran hat sich Stalin gehalten?«
»Jeder, Herr Gauleiter. Alle Zaren und Zarinnen. Kerenskij und Lenin und Stalin auch.«
»Und nun erwarten Sie das auch vom Führer …«
»Von Ihnen, Herr Gauleiter. Dem Führer wird es egal sein, wer das Bernsteinzimmer bewacht. Solange es in Königsberg steht, haben Sie die Verantwortung.«
»Es wird jetzt für alle Zeit in Königsberg stehen!« rief Koch. Der Mann, wie hieß er?, Wachter, machte einen guten Eindruck auf ihn. Vor allem konnte er ein Auge sein, das Dr. Findling ständig beobachtete und laufend Berichte abgeben konnte. Nichts, was mit dem Bernsteinzimmer geschah, würde ohne Wachter stattfinden können. Wirklich ein wichtiger Mann.
»Wo haben Sie in Puschkin gewohnt, Wachter?«
»Im Katharinen-Palais, nicht weit vom Bernsteinzimmer entfernt.«
»Das werden Sie hier auch. Sie bekommen im Schloß eine Wohnung.«
»Heißt das, daß ich … Herr Gauleiter, ich kann bleiben? Ich darf weiter das Zimmer betreuen? Ich …«
Koch nickte. Es war ihm peinlich, plötzlich Tränen in den Augen des Mannes sehen zu müssen. Er empfand das als unmännlich, auch wenn er in dieser Situation Verständnis dafür aufbrachte.
»Reißen Sie sich am Riemen!« sagte Koch grob und doch mitempfindend. »Ich will, daß Sie mir über alles berichten. Haben Sie Familie?«
»Meine Frau ist schon lange tot.«
»Keine Kinder?«
»Einen Sohn. Er hieß Nikolaus. Bei einem Unfall kam er ums Leben. Motorrad, Herr Gauleiter. Schädelbruch.«
»Ist wie ein Affe gesaust, was?«
»Die jungen Leute.« Wachter hob resignierend die Schultern. »Gut, daß seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Er war für mich eine große Hoffnung. Nun stirbt mit mir die Familie Wachter aus.«
»Wie alt sind Sie, Wachter?«
»Fünfundfünfzig, Herr Gauleiter.«
»Zehn Jahre älter als ich! Wachter, das ist doch kein Greisenalter. Da kann man doch noch einen Sohn zeugen … mit einer jungen, temperamentvollen Frau! Überlegen Sie sich das. Ein Mann kann immer … nur Mut!« Koch lachte. Bei seinem Lieblingsthema angelangt, wurde er sogar kumpelhaft. »Sie wollen doch wohl nicht die 225jährige Kette zerreißen? In den Lenden der Männer liegt Deutschlands Unsterblichkeit. Sehen Sie sich um, Wachter, in Königsberg wimmelt es von alleinstehenden Frauen mit dem nötigen Hunger.«
»Ich werde es mir überlegen, Herr Gauleiter.«
Koch schlug die Beine übereinander und nahm seine Mütze vom Kopf. Wachter wurde wieder vorsichtig. Es wird also länger dauern, dachte er. Das Verhör geht weiter. So schnell ist ein Koch nicht zu überzeugen.
»Erzählen Sie mir etwas von der Geschichte des Bernsteinzimmers«, sagte er ohne den sonst befehlenden Unterton.
»Das wird Tage dauern, Herr Gauleiter.«
»Na und? Wir haben doch Zeit. Jetzt eine Stunde … und morgen geht's weiter. Was hat zum Beispiel Lenin gesagt, als er zum erstenmal das Zimmer sah?«
»Auf dem Rücken der Werktätigen gebaut!«
»Das sieht ihm ähnlich!« Koch lachte schallend. »Weiter, mein lieber Wachter. Weiter.«
Nach drei Tagen hatte Jana Petrowna gelernt, mit zwei Fingern einigermaßen fließend zu schreiben. Allerdings hatte sie unentwegt geübt, hatte zehn Stunden lang hinter der Schreibmaschine gesessen und sich die Buchstabeneinteilung der Tastatur gemerkt. Sie hatte sogar versucht, mit geschlossenen Augen zu tippen, aber das ging zu diesem frühen Zeitpunkt völlig daneben. Am Abend des dritten Tages zeichnete sie auf ein längliches Stück Karton die Tastatur der Maschine, genau in der Größe des Originals. Frieda Wilhelmi begutachtete die Zeichnung, als sie von einem Rundgang durch die Stationen zurückkam. Wie üblich hatte es wieder eine Menge Ärger gegeben. Friedas Trompetenstimme hatte durch alle Flure gedröhnt, ein paar Schwestern ließ sie weinend in den Stationszimmern
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