Das Bernsteinzimmer
schüttelte den Kopf.
»Auch andere gibt es, Väterchen. Vielleicht viele andere. Wir kennen noch zu wenig.«
»Aber fast alle glauben an den Sieg. An die Vernichtung Rußlands. Vor Moskau stehen sie, vor Leningrad, die Krim haben sie erobert, marschieren durch den Kaukasus …«
»Und der Winter wird kommen … den kennen sie noch nicht. Und der Ural liegt vor ihnen, dann das unendliche Sibirien, der Amur, der Ussuri, Chinas Grenze, Kamtschatka, die Gebiete um Wladiwostok und am Pazifik … niemand, auch die Deutschen nicht, kann Rußland erobern. Unser weites Land ist unser ewiges Leben.«
»Wie klug du redest, Töchterchen. Lassen wir uns überraschen vom General Winter.«
Noch viel, o wieviel hatten sie miteinander zu reden, aber es würde verdächtig werden, wenn Wachter nicht bald in das Bernsteinzimmer zurückkam. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt, spähte in den Flur und zog dann Jana Petrowna aus dem Liebermann-Zimmer. Er brachte sie bis zur Treppe, nickte ihr zu, wartete, bis sie die Stufen hinabsprang, und kehrte dann ins Bernsteinzimmer zurück.
Dr. Findling, Dr. Runnefeldt und Dr. Wollters hatten ihn nicht vermißt. Sie standen diskutierend vor der großen, auf dem Boden liegenden zusammengesetzten Wandtafel und verglichen sie mit Fotos aus alten Museumskatalogen des Katharinen-Palastes. Dr. Findlings Gesicht war von einer großen Betroffenheit gezeichnet.
»Wenn alle Tafeln so sind wie diese« – sagte er gerade – »na, dann Prost. Es fehlen der nach oben abschließende Wandfries, die Ornamentverzierungen zwischen dem Wandfries und dem Deckengemälde, das ja in Puschkin geblieben ist, und eine ganze Menge der Mosaiksteinchen der Tafel. Mir ist das rätselhaft. Das war doch alles noch vorhanden, als Sie das Zimmer ausbauten, meine Herren! Oder nicht?«
»Ich hab's nicht in der Tasche!« antwortete Dr. Wollters beleidigt. »Wir haben das ausgebaut, was vorhanden war.«
»Der über ein Meter hohe Wandfries war da! Das Bernsteinzimmer stand komplett im Saal.« Dr. Runnefeldt ging einmal um die ausgelegte Tafel herum. »Nichts fehlte! Das kann ich beschwören! Das wäre uns doch aufgefallen … rundum eine kahle Wand von einem Meter Höhe! Und die Ornamente zwischen Fries und Deckengemälde hätten ja auch Lücken hinterlassen, wenn sie nicht mehr dagewesen wären! Nein, das Zimmer war bis auf kleine Schäden unversehrt.«
»Fragen wir Wachter. Wenn einer etwas weiß, dann er …«
Bei dieser Lage der Dinge war Wachter zurückgekommen und hatte die letzten Worte noch gehört.
»Sie haben gehaust wie die Hunnen«, sagte er laut.
»Wer?« Dr. Findling fuhr herum, er hatte Wachter nicht zurückkommen gehört.
»Die Soldaten …«
»Da haben wir es. Diese sowjetische Soldateska …« Dr. Wollters ballte die Fäuste. »Nichts ist ihr heilig …«
»Es waren deutsche Soldaten, Herr Rittmeister«, sagte Wachter.
Jetzt fuhr Dr. Wollters herum, als habe ihn der Museumsdirektor in die Kniekehlen getreten. »Eine Unverschämtheit ist das!« schrie er mit hochrotem Gesicht. »Mann, was Sie da behaupten, ist Wehrkraftzersetzung! Darauf steht die Todesstrafe, wenn ich das melde. Wenn ich das melde! Der deutsche Soldat ist ein Kulturträger, begreifen Sie das?!«
»Schwer –«
»Sie … Sie Volksverräter!« Dr. Wollters japste nach Luft. »Sie bezichtigen unsere tapfer kämpfende Truppe des Vandalismus?! Ich … ich finde keine Worte mehr!«
»Eine Anzeige wäre sehr interessant.« Wachter übersah, daß ihm sowohl Dr. Findling wie auch Dr. Runnefeldt warnend zublinzelten. Maul halten, Wachter! Um Himmels willen, seien Sie doch still! Sie wissen ja gar nicht, was Sie da anrichten! Wenn Wollters wild wird, können wir Ihnen nicht mehr helfen. Keiner kann das dann mehr … selbst Gauleiter Koch nicht.
»Wäre sie das?« bellte Wollters. »Das Vergnügen können Sie haben!«
»Ich kann einen Zeugen vorweisen, Herr Rittmeister, dem wird man glauben: General von Kortte. Er hat es selbst gesehen, wie die Soldaten im Bernsteinzimmer gehaust haben. Mit verdreckten Stiefeln, voller Lehmklumpen, lagen sie auf den wertvollen Polstermöbeln, mit Seitengewehren haben sie Mosaike und ganze Schnitzereien aus den Wänden gebrochen, zur Erinnerung und um die Andenken an ihre Frauen zu schicken, mit ihren Nagelstiefeln haben sie das unersetzliche Intarsienparkett zertreten. Ich wollte sie von der Zerstörung abhalten … was haben sie getan? Mich niedergeschlagen haben sie, fast getötet, eine Horde von
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