Das Beste aus 40 Jahren
typischen Wutanfälle eines jungen Mädchens und hast dich in deinem Zimmer eingeschlossen.
Das war jedoch nicht das Schlimmste gewesen. Wenn Rico auf Geschäftsreisen war, gelang es Chiara immer wieder, zu entwischen und in genau die Lokale zu gehen, die ihr verboten waren. Oder sie lud Freunde ins Haus ein, denen er sofort die Tür gewiesen hätte.
Unerwartet klingelte Ricos Handy. Leise fluchend stand er auf. „Tut mir leid. Das ist das eine Telefonat, das ich unbedingt führen muss.“
Anastasia blickte ihm nach, als er den Strand entlangschlenderte, und nun erst fielen ihr die Bodyguards auf, die das Gelände gegen unerwünschte Schaulustige und Paparazzi abschirmten.
„Jetzt, da Rico weg ist, kannst du mir die Wahrheit sagen“, meinte Chiara und trank einen Schluck Mineralwasser. „Ich war nicht der Tugendbolzen, für den er mich hält, oder?“
„Wieso glaubst du das?“
„Na ja, es klingt nicht nach mir. Aber ich kann mich nicht erinnern, wie ich wirklich war. Es ist, als wäre dicker Nebel in meinem Kopf, der alles einhüllt und versteckt.“
„Vielleicht sollten wir lieber ins Haus zurückgehen“, schlug Anastasia vor.
„Der Nebel im Kopf geht davon leider nicht weg, deshalb kann ich genauso gut hierbleiben.“ Chiara atmete tief durch. „Es gefällt mir am Strand.“
„Das freut mich.“ Diesmal gelang es Anastasia nicht, die Überraschung zu verbergen.
„Ach so. Früher fand ich es hier scheußlich, ja?“
„Na ja, du hast immer gesagt, es sei langweilig. Aber du bist jetzt ja älter und …“
„Nicht mehr so eine Nervensäge?“, unterbrach das Mädchen sie trocken. „Ich war mit Jungen befreundet, oder? Rico hat es nicht gewusst, du schon. Das sehe ich dir an. Stimmt’s?“
Und was sage ich jetzt? fragte Anastasia sich betroffen. Dass es Chiaras Freund gewesen war, den Rico im Schlafzimmer entdeckt hatte? Dass Chiara letztlich die Ehe, die ohnehin in einer Krise gesteckt hatte, zerstört hatte?
Nein, das durfte sie das Mädchen nicht wissen lassen. Die Wahrheit würde Chiara verstören, aber die Beziehung zu Rico nicht mehr kitten.
Jetzt ging es nur noch darum, dass Chiara möglichst schnell gesund wurde – und sie, Anastasia, möglichst bald nach England zurückkehren konnte.
„Ich glaube nicht, dass die Vergangenheit jetzt sehr wichtig ist“, begann sie und lächelte Chiara aufmunternd an. „Die Gegenwart zählt. Du musst dich jetzt darauf konzentrieren, wieder ganz gesund zu werden.“
„Na schön!“ Frustriert seufzend legte das Mädchen sich wieder zurück. „Eines Tages wird der Nebel in meinem Kopf sich schon wieder lichten.“
Und dann? fragte Anastasia sich im Stillen.
In dem Moment kam Rico zurück und setzte sich zu ihnen.
„Wieso arbeitest du eigentlich nicht wie üblich im Büro?“, fragte Chiara.
„Ich lerne zu delegieren“, antwortete er und lächelte Anastasia herausfordernd an.
Sie erwiderte das Lächeln. „Als Nächstes fängst du noch an, über deine Gefühle zu sprechen!“, spöttelte sie.
„Nein, nein! Erwarte nicht zu viel, Liebste.“ Er neigte sich vor und küsste sie leicht auf die Lippen. „Männer – ganz besonders sizilianische Männer – gestehen keine Schwächen ein.“
„Du meinst also, dass du keine Schwächen eingestehen kannst“, verbesserte sie ihn.
„Daran sind vermutlich wir Frauen schuld“, warf Chiara ein. „Rico ist Herr im Haus Crisanti, seit er fünfzehn war. Wir alle stützen uns auf ihn und haben es immer getan. Ständig erwarten wir, dass er stark ist und für jedes Problem eine Lösung kennt. Sollte er jemals Schwäche zeigen, würden wir anderen in absolute Panik geraten.“
Stumm saß Anastasia da und machte sich Vorwürfe, weil sie Ricos Situation bisher nie richtig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Natürlich hatte er ihr erzählt, dass er in jungen Jahren den Vater verloren hatte, und ihr war aufgefallen, wie sehr sich alle Angehörigen auf ihn verließen … aber sie hatte sich nie Gedanken gemacht, welche Auswirkungen es hatte, wenn ein Fünfzehnjähriger gezwungen war, Verantwortung für seine Familie zu übernehmen.
Wie können erwachsene Frauen sich von einem Teenager abhängig machen? dachte Anastasia schockiert. Nun hätte sie Rico gern alles Mögliche gefragt, zum Beispiel, wie er es damals als Junge verkraftet hatte, Familienoberhaupt zu werden. Wer hatte sich um ihn gekümmert, wenn er sich um alle anderen kümmern musste?
Zu Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihm oft
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