Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
abstreiten, dass sie Recht hatte. Und so war ich wieder bei den St. Clairs gelandet. Als Aushilfe. Mein Nervenkostüm war an diesem Tag sicher empfindlicher als Lollys teurer Zweiteiler.
Ich wusste natürlich ganz genau, dass Lolly jeden Patissier von San Francisco hätte buchen können, den sie wollte. Sie gab mindestens einmal im Monat einen großen Empfang; ihr Adressbuch war voller Caterer, Veranstalter und Hilfsorganisationen, die sie für förderungswürdig hielt. Trotzdem hatte sie mir in all den Jahren immer wieder präzise formulierte E-Mails geschickt und gelegentlich forsch auf den Anrufbeantworter gesprochen, ohne sich von meinen spärlichen Antworten entmutigen zu lassen. Es war ja nicht so, dass ich sie nicht mochte, aber ich hatte einfach schon sehr viel meiner Lebenszeit darauf verwendet, mich aus der Welt der St. Clairs zu befreien. Ich kannte Lolly gut genug, um zu wissen, dass sie gleich die ganze Hand nahm, wenn man ihr nur den kleinen Finger reichte. Doch als sie herausfand, dass ich als Bäckerin in einem kleinen Café im Mission District arbeitete – einem traditionell von Latinos bewohnten Viertel, in dem Lolly höchstwahrscheinlich noch nie gewesen war, geschweige denn gegessen hatte –, musste ich ihre Hartnäckigkeit einfach bewundern.
»Meine Lieblingssorte!«, rief sie aus, als sie die Schachtel öffnete, die das Dienstmädchen in der Küche abgestellt hatte. »Dass du das noch wusstest! Zitrone. Ach, da bin ich aber froh. Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, du könntest irgendwelche schrecklich modernen Sorten mitbringen. Es ist ja schon schlimm genug, dass ich Erwachsenen so etwas wie Cupcakes serviere … nichts gegen dich, Annie! Heute ist jeder ganz verrückt nach diesen Dingern, nicht wahr? Aber wenn du mit so lächerlichen Geschmacksrichtungen wie Wasabi oder Mojito angekommen wärst, hätte ich wirklich nicht gewusst, was ich tun soll. Wenn ich den Geschmack von Lavendel auf der Zunge haben will, kann ich mir auch gleich Raumspray in den Mund sprühen.« Lolly verzog das Gesicht so weit, wie ihre gestraffte Haut es zuließ. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass niemand mehr weiß, wie köstlich die feineren Dinge schmecken. Zum Glück gibt es die Klassiker.« Sie hielt inne. »Hast du …« Sie warf mir einen prüfenden Blick zu. »Ist das ein Rezept deiner Mutter?«
»So gut ich es aus dem Gedächtnis hinbekommen habe. Ich habe ihr Backbuch nie gefunden.« Ich sah kurz zu der Kücheninsel hinüber. »Ehrlich gesagt würde ich mich gern danach umsehen, wenn ich schon mal hier bin. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, dass eine abgebrannte Bäckerin in deinem wertvollen Silber herumschnüffelt.«
»Ich denke, wir können ausnahmsweise mal ein Auge zudrücken. Wir haben niemanden mehr in der Remise untergebracht, seit …« Lollys Stimme erstarb. Sie musterte ihre perlmuttlackierten Fingernägel, bis sie sich wieder im Griff hatte. Als sie aufsah, war die Gefühlsregung, die sich kurz auf ihrem Gesicht bemerkbar gemacht hatte, verschwunden. Sie atmete tief durch, und ihre Brust hob und senkte sich unter der zinnfarbenen Bluse. Ich stellte mir vor, wie sie morgens vor dem Spiegel stand und ihre Liste durchging: Makellos geschwungene Augenbrauen? Abgehakt. Gemeißelte Wangenknochen? Oh ja. Strahlendes Lächeln? Und ob. So, dann gehen wir mal ein paar Kinder retten.
»Nun ja, Hausangestellte waren eigentlich nicht mehr nötig, nachdem ihr Mädchen aufs College gegangen seid«, fuhr Lolly fort. »Jetzt spuken nur noch Tad und ich durch dieses große alte Haus.«
Ich versuchte, mein Grinsen nicht zu breit werden zu lassen. Lolly und Tad hatten vielleicht keine Angestellten mehr bei sich wohnen, aber ich hätte mein bestes Cupcake-Rezept darauf verwettet, dass sie immer noch von früh bis spät von helfenden Händen umgeben waren. Schließlich waren diese helfenden Hände fast zwanzig Jahre lang die meiner Mutter gewesen.
Meine Mutter, Lucia Quintana, wurde mit sechzehn von ihrer streng katholischen Familie verstoßen, weil sie schwanger war. Sie floh aus Ecuador und quartierte sich erst einmal bei einer Cousine in South San Francisco ein, wo sie die nächsten zwei Jahre auf der Couch schief, bis sie schließlich das Glück hatte, als Nanny bei den St. Clairs anfangen zu können. Obwohl ich die Einzelheiten dieser Geschichte so gut kannte wie das Grundrezept für Rührteig, konnte ich sie immer noch kaum glauben. Wie hatte dieses schmächtige junge Mädchen, dessen
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