Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
Verhältnis zu meiner Mutter zerrüttet hatten? Was sie bei der Beerdigung gesagt hatte? Ich schüttelte ärgerlich den Kopf, um die Erinnerungen an die Ereignisse jenes Jahres, die ich eigentlich so sorgsam verstaut hatte, wieder zu verscheuchen, und entschuldigte mich unter irgendeinem Vorwand. So lässig, wie es mir mit meiner nicht gerade robusten Statur nach zwei großen Gläsern Wein möglich war, ging ich zurück ins Haus. Kurz bevor ich den Salon betrat, hörte ich Julia lachen, ein kokettes und künstliches Lachen, das laut durch die warme Abendluft hallte. Ich warf einen Blick über die Schulter. Ihre Hand berührte Jakes Arm, ihre Stirn war ganz nah an seiner. Verdächtig nah für eine glücklich verlobte Frau , dachte ich und trat die Flucht aus diesem Haus an, das ich, so schwor ich mir, mitsamt der trügerischen Welt der St. Clairs ein für alle Mal verlassen würde.
Die flache, stuckverzierte Remise der St. Clairs lag direkt an dem öffentlichen Gehweg vor ihrem Anwesen und diente damit als eine Art Bollwerk zwischen der profanen Außenwelt und der Villa. Eine Garage und eine mit einem hohen Tor verschlossene Einfahrt bildeten das untere Stockwerk; im oberen Stock lag die Zweizimmerwohnung, in der meine Mutter und ich so lange gewohnt hatten. Als ich die Partygesellschaft verließ und auf dem unebenen Kopfsteinpflaster des Vorplatzes den allzu vertrauten Weg zur Remise einschlug, wurde ich von dem Déjà-vu-Gefühl geradezu überwältigt. Ich fand den Schlüssel an seinem gewohnten Platz unter einer steinernen Ente neben der Tür und steckte ihn ins Schloss. Nachdem ich eingetreten war, machte ich das Licht an und schnappte unwillkürlich nach Luft.
Unser altes Wohnzimmer zu sehen fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Auch hier hatten Lolly und Tad nichts verändert. Ich nahm ein gerahmtes Foto vom Couchtisch. Es zeigte meine Mutter, die mit ihren vor Freude glänzenden dunkelbraunen Augen in die Kamera blickte, während sie sich herunterbeugte und mit einem Arm eine Elfenversion von mir und mit dem anderen ein kleines Füllen namens Julia umfasst hielt. Fast roch ich wieder ihren besonderen Duft, eine Mischung aus warmem Zucker und Vanille und dem entfernten Aroma saurer Zitrusfrüchte, Limette vielleicht. Behutsam stellte ich das Bild wieder an seinen Platz zurück und kämpfte darum, den Halt in der Gegenwart nicht zu verlieren.
Wo zum Teufel konnte dieses Backbuch nur sein? Das letzte Mal hatte ich am Tag der Beerdigung meiner Mutter danach gesucht, und im Laufe der Jahre habe ich mich immer mal wieder gefragt, ob die Trauer sich damals wie ein Nebelschleier vor meine Augen gelegt hatte und ich es deswegen nicht gefunden hatte. Vielleicht , dachte ich, habe ich das Buch einfach übersehen, weil ich es so eilig hatte, diesem Haus endlich den Rücken zu kehren. Jedes Mal, wenn eine Nachricht von Lolly kam, hoffte ich insgeheim, dass sie sich meldete, weil sie das Buch gefunden hatte. Doch sie hatte nie etwas dergleichen erwähnt.
Das Buch meiner Mutter war weit mehr als ein Notizheft, in dem sie ihre Lieblingsrezepte festhielt, obwohl das bei ihren Backkünsten schon gereicht hätte, um es in meinen Augen wertvoll zu machen. Aber ich wusste, dass Mom es auch als Tagebuch benutzt und Abend für Abend ihre Gedanken niedergeschrieben hatte – über den vergangenen Tag, über ihre Tochter und die Familie, für die sie so liebevoll sorgte. Das Bild meiner Mutter, wie sie über das Buch gebeugt dasaß und die Seiten mit ihrer ordentlichen, runden Handschrift füllte, ihr Gesicht umgeben von dem schützenden Vorhang ihrer dunklen Haare, hatte sich mir für immer ins Gedächtnis gebrannt. Ich glaube, irgendwie war ich damals sogar erleichtert gewesen, dass ich das Buch nicht gefunden hatte. So kurz nach ihrem Tod hatte ich mich noch nicht wirklich bereit gefühlt, ihre persönlichen Aufzeichnungen zu lesen. Wäre das nicht einem Vertrauensbruch gleichgekommen? Aber die Rezepte! Die Baisers, die Empanadas Dulces , die Kokosnuss-Flans meiner Kindheit! Ich hatte immer wieder versucht, sie nachzubacken, aber ohne das Buch waren meine Kreationen nur ein blasser Abklatsch der kleinen Kunstwerke, die meine Mutter mit solcher Hingabe und Geduld geschaffen hatte.
Also gab ich es irgendwann auf, ihre Rezepte zu imitieren, und erfand meine eigenen. Schon in der Collegezeit begann ich, mit Gebäck und Torten zu experimentieren; für die Erkenntnis, dass ich damit ein Ritual schuf, um meiner Mutter nahe
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