Das Bett
Tischchen, ihr Gesicht war zwar wie stets von unten her Stephan zugeneigt, hatte aber seine Gespanntheit verloren. Es wäre zuviel gewesen, wenn man ihre Haltung gelöst genannt hätte, weil in diesem Wort eine heitere Gelassenheit mitschwingt, die meine Tante auch in ihren glücklichsten Stunden niemals kennenlernen sollte. Aber ihre Haltung hatte eine Passivität gewonnen, eine kraftlose Lähmung, die Stephan noch niemals an ihr gesehen hatte, weil er die Photographie nicht kannte, die sie zusammen mit ihrem Vater in Montreux zeigte. Ihre großen braunen Augen waren ausdruckslos und zeigten, daß sie keinem Angriff mehr Widerstand leisten wollte. Meine Tante sah auf einmal wieder wie der weibliche Besitz eines Paschas aus, wie eine Frau, die ihr tötend langweiliges Leben in einem Harem führt, jederzeit bereit, sich von ihrem Herrn in jeder erdenklichen Weise benutzen zu lassen. Seit dem Augenblick, als Stephan eingefallen war, im Titania-Palast ihre Hand zu berühren, war eine Mauer in ihr weniger zusammengefallen als vielmehr einfach zerstäubt. Was hinter dieser Mauer lag, wußte sie nicht, jedenfalls hatte es keinen einfachen Namen, es hieß nicht »Sehnsucht« oder »Begierde«, |263| es hieß auch nicht »Lust« oder »Glück«, es war etwas großes Blasses, das da plötzlich auftauchte, die Bereitwilligkeit, in allem und jedem, was sie nur erahnen konnte und worin sie bisher nur den Anweisungen ihrer Eltern, ihrer Direktorin und dem strengsten Herrn, den sie kannte, ihrem Gewissen nämlich, gefolgt war, von jetzt an Stephan zu folgen. Was Stephan befahl, sollte gut für sie sein, es sollte keiner Überprüfung mehr bedürfen, es trat an die Stelle aller früheren Prinzipien ihres Lebens.
Stephan erkannte nicht die Radikalität ihres Stimmungsumschwungs, aber er sah, wie sie sich verändert hatte. Meiner Tante war klar, daß sich in ihr etwas Unheimliches und Unabsehbares ereignete, etwas, worüber sie keinesfalls froh sein konnte, weil es mit dem Zusammenbruch von so viel Gutem und Altem erkauft war. Ohne in die Zukunft zu sehen, ohne an Konsequenzen zu denken und ohne auch nur ausdrücken zu können, was geschah, wurde sie Zeuge ihrer Demoralisation: ein einschneidender Vorgang, der trotzdem bemerkenswert undramatisch vor sich ging, wie sie selbst mit Staunen feststellte, denn sie hatte sich den in ihren ›Philologischen Arbeitsblättern‹ gelegentlich angesprochenen »Verlust der Mitte« irgendwie geräuschvoller vorgestellt. Stephan jedenfalls verstand, daß meine Tante nicht mehr die Frau war, der er als Erzengel einen verklärenden Goldtupfer in den grauen Alltag setzen konnte. Während er die Hingegebenheit in der Haltung meiner Tante aufnahm, während er die hypnotische Stumpfheit ihres Blickes aushielt, kam sie ihm überhaupt wie ausgewechselt vor. Stephan bemerkte zum erstenmal, daß meine Tante eine hübsche junge Frau war. Warum war ihm so lange verborgen geblieben, daß sie eine kleine gerade Nase hatte und daß ihre Lippen weich und voll waren? Was hatte ihn gehindert zu sehen, daß meine Tante die schönste, perlenhafteste Haut hatte, auf der Stirn hell, auf den Wangen rosig, auf den Lippen von einer Farbe, die die feinste Fleischsubstanz verriet. Stephan verweilte bei der Betrachtung ihres Mundes: Er stellte fest, daß ihre Mundwinkel nach innen gezogen waren, und er stellte sich vor, daß er, wenn er meine Tante küssen würde, erleben werde, wie sich eine ganze polypenhaft köstliche Innenwelt aus diesem |264| Mund herausstülpte, die in einer zart salzigen Flüssigkeit ihre Glätte und Gefügigkeit bewahrte. Er kam sich, wenn er an seine neue Lieblingsvorstellung dachte, nämlich meiner Tante großmütig die ihr zustehende einmalige Ration an Glück zuzuteilen, auf einmal lächerlich vor, aber er wußte auch, wenn er meiner Tante in die Augen sah, daß eine Liaison mit ihr nichts von den Erlebnissen haben werde, die er bisher mit Frauen gehabt hatte.
Stephan war über den Freundeskreis seiner Mutter mit kurzlebigen Affären in befriedigendem Umfang versorgt worden. Er liebte es, sich von einer umsichtigen Dame, die unverbindliche Abwechslung suchte, entdecken und pflücken zu lassen. Sein herausforderndes Abwarten war von Anfang an für die Gestaltung seiner ehebrecherischen Divertimenti von Vorteil. Sie belastete den Anfang der Beziehung nicht mit allzuviel Investitionen an Einfällen, falschem Feuer und rhetorischen Kraftakten, und sie erlaubte in der Zeit der Routine, zu deren
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