Das Bett
nichts anderem als neuer Verderbnis führte. Sie bewunderte den Geist der Kirchenführer, die es verstanden hatten, sich den Fortschritt und die neuen Errungenschaften der menschlichen Vernunft zunutze zu machen und die Kirche vor Versteinerung zu bewahren. Nein, es waren keine geistlichen Bedenken, die meine Tante veranlaßten, ihre Theaterliebe im Zaum zu halten und sich theatralischen Darbietungen nur auszusetzen, wenn es galt, ihre Schülerinnen einmal im Jahr in eine Klassikeraufführung zu begleiten oder gar selbst mit ihnen ein kleines Theaterstück einzustudieren: mit der energischen Unterstützung der Mère Bénédicte war noch im vorigen Jahr eine szenische Bearbeitung des ›Kleinen Prinzen‹ von dem vom |270| ganzen Lehrkörper heiß verehrten Postflieger Saint-Exupéry aufgeführt worden. Meine Tante war heiter und glücklich, als sie erzählte, wie wunderbar komisch Mère Maria Caritas gespielt hatte, die wegen ihrer tiefen Stimme die Rolle des »Trinkers« verkörperte. In solchen Augenblicken wagte sie es, sich selbst ihre Liebe zum Theater zu bekennen, die bei anderen Gelegenheiten ein heimlich schwärendes Dasein führte.
Wenn eine Schauspielerin mit einem satt klingenden Timbre auf der Bühne stand, ihren Oberkörper vorbeugte, so daß ihre Brüste auf ihren nach vorn gestreckten Unterarmen lagen, das dunkelrote Haar in wüsten Wirbeln rechts und links das weiße Gesicht umschäumte und sie aus Leibeskräften schrie – dann geriet meine Tante in eine Verwirrung, die ihr häufig nicht einmal mehr gestattete, am Schluß der Vorstellung die Ausgangstür und die Garderobe zu finden, wo ihre Baskenmütze auch dann noch einsam hing, wenn alle anderen Mäntel und Regenschirme längst abgeholt waren. Mit verstörtem Blick irrte sie durch die Gänge des Theaters im Bürgersaal. Sie nahm nichts wahr, weil der Aufruhr ihres Innern die Richtung ihrer Sinne umgekehrt hatte, so daß ihre Augen nur noch mit der Betrachtung von dunkelroten Locken und ihre Ohren mit dem Vernehmen jenes einzigartigen Schreies befaßt waren, ungeachtet des Umstandes, daß dieser Schrei vor Stunden bereits im dunklen Theatersaal verklungen war und daß die ungebärdige Lockenpracht längst wieder mit Nadeln angeheftet auf einem Perückenkopf ruhte. Meine Tante hatte gelernt, daß das Theater, für das sie wie kaum eine andere empfänglich war, für ihre Seelenruhe einen zu starken sinnlichen Reiz enthielt. Demütig nahm sie in Kauf, von ihren Kolleginnen, die alle Abonnements besaßen, als unmusisch bezeichnet zu werden, und leistete Verzicht auf etwas, zu dessen Genuß gerade sie geboren war. Wann immer sie jedoch einen Zipfel der Theaterwelt zu fassen bekam, hinderte sie ihr loyales Herz nicht daran, für den Gegenstand seiner Träume schneller zu schlagen, und die kleinen Erregungen erinnerten sie daran, daß ihre große Leidenschaft auch durch die härteste Entbehrung nicht auszuhungern war.
|271| Die losen Reden, mit denen meine Mutter das Pathos der alten Schauspieler ebenso verspottete wie den neuen Stil künstlicher Nüchternheit bei den jungen, verstörten meine Tante, die meiner Mutter ihre Leichtfertigkeiten natürlich nicht zu verweisen wagte. Nur einmal erlaubte sie sich, gegen meine Mutter Partei zu ergreifen, die den kleinen Aufstand im übrigen nicht bemerkte und ihn auch keineswegs übelgenommen hätte: meine Mutter, die von der Theaterbegeisterung meiner Tante nichts ahnte, hätte sogar alles darangesetzt, ihre Schwester unablässig ins Theater zu treiben, wie sie dafür sorgte, daß meine Tante während ihres Aufenthaltes in Frankfurt mindestens eine Omnibus-Tour mit den berufstätigen Frauen der Gemeinde unternahm, und daß sie keineswegs unterließ, die staubigen Dinosaurier des Senckenbergmuseums zum wiederholten Mal einer Besichtigung zu unterziehen und dabei die überraschende Verwandtschaft der Reptilienskelette mit dem Skelett des Menschen vermittels eines anatomischen Handatlanten akribisch so lange zu untersuchen, bis zu Hause das Mittagessen auf den Tisch gestellt wurde.
Meine Tante stand gerade vor dem Aufbruch in das Museum, wo sie ihre Forschungen, seitdem sie an der Auseinandersetzung um die Lehren des Paters Teilhard de Chardin teilnahm, mit wachsender Unruhe betrieb. Sie hatte, auf unserem Balkon sitzend, ihre letzte Tasse Tee noch nicht ausgetrunken, als ein neues Radioprogramm, das durch die geöffnete Balkontür zu hören war, sie noch einmal festhielt und sie veranlaßte, die Familie zu
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