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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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so mehr auch das Interesse meiner Tante an dem verhandelten Gegenstand billigen müsse.
    Frau Hauff war blond und füllig, sie hatte in jungen Jahren zur Klavierbegleitung sehr hübsch gesungen. Weil sie ohnehin die Kunst liebte, war sie durch den Besuch bei ihrer im Wahnsinn verstrickten Tochter, die nur deshalb nicht an unserem Frühstück teilnahm, weil ihr an diesem Vormittag ein erneuter Elektroschock beigebracht werden sollte, doppelt empfänglich für die Reize dramatischer Leistungen: Das Leid kann auch bei dem Boshaftesten eine gerührte Stimmung erzeugen, die sich manchmal |274| sogar auf die Werke der Kunst erstreckt, wie sich der von allen Menschen grausam Verlassene wohl auch zu einem räudigen Köter hinunterbeugen mag, um das überraschte Tier dabei mit Sätzen etwa des Wortlauts: »Ja, ja, du verläßt mich nicht« zärtlich zu bedenken. Frau Hauffs Hinneigung zur Kunst entsprach der raunende Ton des Sprechers, der im Schulfunk Wissenswertes aus dem Themenkreis der ›Maria Stuart‹ verlas. Plötzlich war die Hauptsensation der Sendung da, eine weibliche Stimme begann eine bebende Rezitation, die selbst meine mit den Wespen beschäftigten Eltern aufhorchen ließ.
    »Ist das die Dorsch oder die Gold?« fragte mein Vater, der der Ankündigung nicht gefolgt war.
    »Ach was, das ist die Bergner«, sagte meine Mutter, »ich kenne die Stimme ganz genau, vor allem wenn sie kreischt.«
    »Die Bergner kreischt nicht«, sagte mein Vater in mildem Bestreben, meine Mutter so schmerzlos wie möglich zu korrigieren. Die Stimme aus dem Radio verriet die Schulung des Burgtheaters, rollende Rs, die dennoch nicht unbedingt auf süddeutsche Herkunft schließen ließen, waren ihr Merkmal. Das Flehende in der Stimme, eine leicht nasale Schwingung, wurde durch die Technik hervorgerufen, die Stimme ganz im Vorderteil des Kopfes zu bilden. Stirnhöhlen und Wangenknochen übernahmen die Funktion des Resonanzkörpers, die sonst der Brust zukommt, mit dem Ergebnis, daß ein zarter Summton, hervorgerufen durch die Vibration dieser Teile, die Rezitation der Schauspielerin begleitete. Dieser Summton gab ihrer Rede einen uhrwerkshaften Beiklang, als sei die Sprecherin die zu vollendeten Fähigkeiten ausgebildete Puppe Olympia, bei deren flötenhaften Lyrismen dennoch ein begleitendes, gedämpftes Schnarren anzeigt, daß wir ein Wunderwerk der Mechanik und nicht eins der Poesie genießen.
    »Das ist die Gold, und wenn es nicht die Gold ist, dann ist es die Dorsch«, sagte mein Vater. Frau Hauff nickte und gab ihm recht. Meiner Tante jedoch war die Welt versunken. Vor ihren Augen tauchten lange Korridore auf, die die Königin, die Hände auf den Busen gepreßt, das Haar unter einem wehenden Schleier offen herabfallend, durcheilte, eine Vorstellung, die der eigentümlich |275| ziehende Vortragsrhythmus hervorbrachte, der die Wörter miteinander verband und vom Klang her ein edles Fliehen suggerierte. In äußerstem Affekt stieß die Stimme schließlich hervor: »Sie könnt’ es wagen, mein gekröntes Haupt / Schmachvoll auf einen Henkerblock zu legen?«
    Hier brach die Deklamation ab, denn den Redakteuren der Sendung war es im wesentlichen um dies Zitat zu tun gewesen. Bevor aber der raunende Kommentator wieder einsetzen konnte, in der Sekunde, die als Kunstpause dem Zuhörer erlauben sollte, den empfangenen Eindruck nachklingen zu lassen, sagte Frau Hauff: »Erschütternd«, und zwar mit einem Ausdruck, der Ergriffenheit mit tiefer Sicherheit verband. Sie erntete für ihr Urteil den dankbaren Blick meiner Tante, die auch etwas Zustimmendes sagen wollte, wenn ihr nicht der Rundfunksprecher und meine Mutter zugleich zuvorgekommen wären. Meine Mutter sagte: »Na, ich weiß nicht.« Mein Vater sagte: »Es war die Gold«, und meine Tante saß mit zum Sprechen geöffnetem Mund da, nahm dann all ihren Mut zusammen und sagte meiner Mutter mitten ins Gesicht: »Ich finde auch, daß das sehr schön war.«
    Mir wurde bei diesem Anlaß zum erstenmal klar, daß das Theater auch mit Gesprochenem zu tun haben kann. Für mich war das Theater bis dahin vor allem eine Folge von Bildern, oder besser, ein Vorgang, der lange vor dem Öffnen des Vorhangs begann, nämlich bereits, wenn ich mit einem kleinen weißen Rüschenhemd und weißen Strümpfen bekleidet wurde, bittere Schokolade zu trinken bekam und unmittelbar nach ihrem Genuß aufgefordert wurde, noch einmal aufs Häusel zu gehen, damit ich später die Vorstellung nicht störte.
    Wenn ich dann

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