Das Bett
an der Hand meiner Mutter das düstere Opernhaus von Wiesbaden betrat, wäre ich sicher augenblicklich bereit gewesen, der Bemerkung Baudelaires zuzustimmen, das wichtigste am Theater sei der Lüster, wenn mir die Werke dieses Schriftstellers zu diesem Zeitpunkt bereits vertraut gewesen wären. Gleichgültig, welches Stück in Wiesbaden zur kindlichen Weihnachtsunterhaltung gegeben wurde, unabhängig davon, |276| ob es im wilden Wald oder in einem märchenhaften Palast spielte, ob Rotkäppchens oder Dornröschens Schicksal geboten wurde, der Höhepunkt all dieser Werke war immer ähnlich und wurde von mir, der ich dem Fortgang der Handlung nur mit Mühe folgen konnte, ein Jahr im voraus schon sehnlichst erwartet. Es war das Schönste, was ich mir auf einer Bühne denken konnte, die eigentliche Erfüllung höchster theatralischer Pflicht.
Ein großes Ei schwebte vom goldenen Bühnenhimmel herab, oder auch ein mit menschengroßen rosa Schleifen geschmücktes Geschenkpaket, und sank sanft auf den Bühnenboden. Harfen und Violinen, die den Dämpfer aufgesetzt hatten, begleitet von Glockenspielen, ließen ein überirdisches Klingklang und Vogelgezwitscher ertönen. Eine beglückendere Wirkung als die Erscheinung dieses Eis oder auch des wohlverschnürten Geschenkpakets hätte selbst eine unerwartete Epiphanie des Erzengels Gabriel nicht hervorrufen können, zumal die Wirkung sich noch steigern sollte. Denn in das atemlose Entzücken hinein, das das Herabschweben und Landen der Himmelsgaben bei den Schauspielern, die größtenteils als sprechende Tiere kostümiert waren, und bei den Zuschauern hatte entstehen lassen, begann sich in dem Ei ein Sprung zu bilden, geräuschlos klappte es auf, und heraus hüpften zwölf kleine Tänzerinnen, die Osterglocken, Nachtfalter und gelbe Küken darstellten und sich sofort zu einem Ballett formierten, das weniger der Begrüßung des Publikums galt als der ihrer Herrin, die zum Schluß aus dem zerbrochenen Ei wie Venus aus dem Schaum aufstieg, ein besonders kleines Mädchen in silbernem Kostüm mit blitzendem Diadem, das mit den Ärmchen hoch über seinem Kopf ein großes O bildete. Dieser Anblick war der Gipfel des Stückes, und ich zweifelte lange daran, ob sich Bedeutenderes würde jemals auf einer Bühne verwirklichen lassen.
Selbstverständlich brachte ich den eben im Radio gehörten Monolog sofort mit diesen weihnachtlichen Theaterstücken in Verbindung, ein Gedanke, der vor allem wegen der Erwähnung des »gekrönten Hauptes« auf der Hand lag. Daß der kleinen Fee mitten auf der Bühne der Kopf abgeschlagen werden sollte, war |277| zwar eine entsetzliche Vorstellung, enthielt aber wahrscheinlich die einzige denkbare Steigerung, die nach ihrer berückenden Apotheose noch zu konstruieren war. Mein Vater enttäuschte meine Hoffnungen: in dem Stück, das wir gehört hatten, werde niemand auf der Bühne geköpft. Es hatte vielmehr eine schwierige Handlung, die, wenn man seine hilflosen Erinnerungsversuche recht deutete, im wesentlichen aus endlosen Auseinandersetzungen bestand, quälenden Unterhaltungen, von gelegentlich nicht mehr verborgenem Angriffsgeist erfüllt, aus nichts anderem also als dem, was sich täglich auch bei uns abspielte, wenn wir uns zu Gemüsesuppen, Rindfleisch mit grüner Sauce und Bratäpfeln um den Mittagstisch versammelten.
Stephan also erzählte meiner Tante, während die beiden, ohne ein Wort der Entschuldigung, einer solchen Mittagsmahlzeit bei uns fernblieben, vom Theater. Er hatte unbedingt recht, wenn er das Erlebnis, von dem er berichtete, schilderte, als beschreibe er die Institution schlechthin, denn er hatte zwar gezwungenermaßen in Frankfurt und in New York die Opernhäuser besucht, aber ohne rechtes Vergnügen dabei zu empfinden. Vor allem war es ihm ein Alptraum, rechts und links im Gedränge Bekannte begrüßen zu müssen, so daß er einmal, als seine Mutter ihn zwang, sie in den ›Werther‹ zu begleiten, sagte: »Noch unangenehmer als die Leut’, die ich nicht kenne, sind mir die Leut’, die ich kenne«, ein Argument, das Florence nicht überzeugte und nur dazu führte, daß sie ihn in der Pause nicht weckte, sondern im portierengeschützten Dämmern der kleinen Loge weiterschlummern ließ. Freilich war Stephan ebenso wenig wie sonst ein Mensch zu absoluten Eindrücken fähig. Die Umstände, unter denen er etwas wahrnahm, waren für seine Urteilsbildung genauso wichtig wie der Gegenstand der Wahrnehmung selbst. Als er zu Beginn des
Weitere Kostenlose Bücher