Das Bett
lateinischen |284| Responsorien abgesehen, die ich als Ministrant zu flüstern gelernt hatte, nicht einmal ihre Sprache sprach. Mit einemmal war die Vergangenheit versiegelt, keine Brücke führte mehr in dies gelobte Land, von dem man nur wissen konnte, daß alles, was in ihm gelebt, gesagt und gesehen wurde, vollständig anders war als das, was wir uns darüber vorstellen konnten.
So sah auch Stephan, daß die gesichtslose Frau mit dem Flügelhut, die ihm als episodenhafte Erscheinung mit röhrenartigem Hut nicht weiterer Erinnerung wert erschienen war, ein Leben führte, das für andere Menschen keineswegs episodischen Charakter besaß. Für Monsieur de Lorde war sie wenigstens an diesem Abend der Bronzefelsen, der ihn vor dem seelischen Zusammenbruch schützte, denn er beruhigte sich unter ihrem Zureden zusehends. Der ist ja ganz newer der Kapp, dachte Stephan, als Monsieur de Lorde plötzlich noch einmal von seinem Platz aufsprang, den schnurrbärtigen Mann aufforderte, das gleiche zu tun, und ihm mit gedämpfter, aber bebender Stimme mitteilte: »Wissen Sie, daß Mademoiselle Maxa heute abend ein Wrack ist? Man weiß noch nicht, ob sie auftreten kann. Ich war bis eben in ihrer Garderobe.« Die Flügelhutträgerin zog den Erregten am Ärmel und sagte: »Chéri, Sie wissen doch, wenn die Maxa nicht vor dem Auftritt kotzt, ist sie nicht gut.« Monsieur de Lorde setzte sich. Er stimmte seiner Begleiterin nicht zu, sondern flüsterte ihr alle Fälle ins Ohr, bei denen diese Prognose nicht eingetroffen war. Über sein Gestikulieren verlosch langsam das Licht, ein Stock wurde dreimal auf den Bühnenboden gestoßen, das Plaudern verstummte, und der Vorhang ging in die Höhe.
»Das tollste an dem ganzen Stück war, zu sehen, wie der Sohn langsam wahnsinnig wurde«, erklärte Stephan meiner Tante, die ihn nicht fragte, wer der Sohn war, wessen Sohn es war und weshalb der Wahnsinn eintrat. Stephan erzählte, wie es die Schüler tun, die sich gegenseitig einen Kinofilm reportieren, den sie zusammen angesehen haben: Ihre nicht zu Ende geführten Sätze sollen nur die Bilder aufrufen, an die sich zu erinnern ihnen Lust bereitet. »Die saßen alle ganz normal am Tisch und haben zu |285| Abend gegessen. Das war sehr realistisch gemacht, mit Rotweinflasche und Brotkörbchen und einem großen Stück Braten – war da der Arzt schon dabei oder noch nicht? Eigentlich kann da der Arzt noch gar nicht dabei gewesen sein, denn den haben sie ja erst gerufen – oder kam er sowieso vorbei? Ich glaube, er hatte ein Verhältnis mit der einen Frau und wollte sie besuchen und war zufällig da, als der Sohn verrückt wurde – oder so ähnlich.« Stephan war unbekümmert, ob meine Tante, die das Stück nicht gesehen hatte, ihm auf diese Weise würde folgen können. Eigentlich war er kein schlechter Erzähler, wenn er sich einmal dazu bequemte, den Mund aufzumachen. Er hatte einen Sinn für trockene Pointen und auch für den Aufbau einer Geschichte. Aber jetzt wollte er in Wahrheit gar nicht erzählen, er wollte laut denken, und er fühlte, wie sehr er meine Tante schon in seine Gedanken hineingenommen hatte, und hatte dabei keineswegs unrecht, denn sie schmiegte sich an jedes seiner tastenden Wörter und wiegte sich in dem innigen Glauben, alles, was er sagte, irgendwo und irgendwie zu verstehen. Die Liebe hatte es vermocht, auch in diesem bescheidensten aller Geister den alten Egoismus aufblühen zu lassen, der in der Vermutung liegt, wir besäßen ganz allein aufgrund der Gier, einen anderen Körper zu besitzen, auch das goldene Schlüsselchen zu dessen Innerstem. So heiligte sich auch meine fromme Tante den ihr noch verhüllten Wunsch, in Stephans Armen zu liegen, mit der Illusion einer bereits erfolgten, restlosen Vereinigung ihrer beiden Seelen. Daß Stephan von einem Pariser Theater sprach, erleichterte ihr, sich einzugestehen, wie erregt sie war, weil dies Dekor wohltuend verschleierte, was genau ihre Erregung hervorrief; auch herrschten in anderen Ländern andere Sitten. Übrigens war meine Tante keineswegs so ahnungslos oder ungebildet, um nicht nach wenigen Worten Stephans zu vermuten, daß er wohl nicht dabei war, ihr einen in pädagogischen Kreisen »klassisch« genannten Theaterabend zu schildern, auch von Sartre oder Giraudoux war wohl nicht die Rede oder von ähnlichen philologischen Köstlichkeiten, wie sie sie vor ihren Schülerinnen auszubreiten liebte. Das Genre, das Stephan ihr in aller Arglosigkeit schilderte, |286|
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