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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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seiner männlichen Indolenz in Vergessenheit gedrängt worden wäre. Wer ihm die Ereignisse geradezu vorgehalten hätte, dem wäre es vielleicht gelungen, vor Stephan die runden Hüften in einem engen schwarzen Rock zu beschwören, die ihm vorangewackelt waren und denen er gefolgt war.
    |280| Die Frau hatte einen steilen, röhrenförmigen Hut auf ihrem kleinen Kopf und sehr rot gemalte Lippen. Sie sprach kein Wort mit Stephan auf dem Cocktail, auf dem er sie kennenlernte und der wahrscheinlich in der Wohnung des amerikanischen Handelsattachés stattfand. Aber ihre Stimme wurde etwas lauter, als es notwendig gewesen wäre, um sich mit ihrem Gegenüber zu verständigen, als sie beim Verabschieden ausrief: »Wir gehen jetzt alle noch in die Rue Chaptal«, eine Bemerkung, die Stephan sofort als auf sich allein gemünzt verstand.
    Das Theater in der Rue Chaptal hatte nebenbei an diesem Tag seinen »Jour de relâche«, wie die kleine Gesellschaft aber erst vor den geschlossenen Türen feststellte, und dem wegweisenden Erlebnis wurde noch die letzte Leuchtkraft in der Erinnerung entzogen, als Stephan die Nacht im Bett der Frau mit dem röhrenförmigen Hut verbrachte. Wenn sie ihn zu guter Letzt hinausgeworfen hätte, wäre der Abend womöglich in seinem Gedächtnis haften geblieben.
    Immerhin hatte ihn diese Bekanntschaft zu einem zweiten Abend in der Rue Chaptal verlockt, und dieses Mal war das Theater geöffnet. Drei Reihen vor ihm in dem winzigen Theatersaal, der mit tiefrotem Stoff bespannt war, saß die Frau mit dem röhrenförmigen Hut, deren Namen Stephan nicht richtig mitbekommen hatte. Ihr Hut war diesmal übrigens keine Röhre, sondern der präparierte kleine Flügel eines brasilianischen Vogels, der mit etwas kaum wahrnehmbarem Tüll verschleiert war. Der Flügel selbst glitzerte in den schwarz-violetten Tönen eines Kopierstiftes. Kaum daß sie Stephan sah, begann sie eine Unterhaltung mit dem Mann zu ihrer Rechten. Das war ein rosig aussehender Mensch mit feiner Goldbrille und einem feierlichen schwarzen Anzug, der sich häufig umdrehte und nach allen Seiten hin Ausschau hielt. Er kannte viele Besucher und zeigte seiner Nachbarin Neuankömmlinge, von denen einer, ein Mann mit wildem schwarzen Schnurrbart, neben Stephan saß. Die Frau mit dem Flügelhut wurde dadurch gezwungen, in Stephans Richtung zu sehen. Sie stand sogar auf und reichte über die Reihen hinweg dem Schnurrbärtigen die Hand. Stephan erhielt aus |281| diesem Anlaß einen durchdringenden Blick, der ihn belehrte, daß er zu schweigen hatte. Der rosige Begleiter wurde von dem Schnurrbärtigen mit Wendungen angesprochen, aus denen hervorging, daß er der Autor des Stückes war, was seine Aufregung erklärte. »Der ißt gern gut, und außerdem macht er mit der Frau rum«, dachte Stephan.
    »Monsieur de Lorde, Sie sind ein Sadist«, sagte der Schnurrbärtige. Der Angesprochene lächelte schwach und tupfte sich mit einem duftenden Taschentuch den Schweiß von der Oberlippe.
    »Ich möchte nur, daß es gefällt«, antwortete er mit nervöser Demut. »Fishing, fishing!« rief die Frau aus ihrem roten Mund. Monsieur de Lorde zuckte zusammen wie ein Fisch, dem der Händler auf den Kopf haut, und sagte, indem er die schwimmenden Augen aufriß: »Chérie, Sie wissen doch, daß ich nicht Englisch spreche.«
    Stephan spürte in seiner Brust ein seltsames Ziehen, wie immer, wenn er unversehens einen Einblick in eine geschlossene Welt tat. Dies Gefühl nannte er bei sich »die Spitze des Eisbergs berühren«. Am deutlichsten entwickelte sich diese Empfindung auf Eisenbahnfahrten. Bei der Einfahrt in den Bahnhof einer großen Stadt führten die Bahndämme oft nah an den Hinterfronten armseliger Mietshäuser vorbei, und aus dem behaglichen Coupé Erster Klasse blickte der Reisende für Sekunden in die erleuchteten Zimmer dieser Häuser hinein. Ganz klar sah man die Bewohner sich bewegen: Ein Mann aß zu Abend und las dabei die Zeitung, eine Frau ging zum Spülstein, eine Gardine wurde zugezogen, plötzlich wurde in einem Zimmer das Licht aus-, in einem anderen angemacht, lauter Szenen, die ohne den Zusammenhang, in dem sie standen, beliebig und bedeutungslos wirkten.
    Niemals fühlte Stephan so deutlich, daß er nicht allein auf der Welt lebe, wie bei diesen zufälligen Streifblicken in fremde Fenster hinein. Das Leben seiner Verwandten und Freunde war mit seinem eigenen auf das engste verschmolzen. Der Zufall, der fremde Schicksale mit dem seinen verbunden

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