Das Bett
gehörte wahrscheinlich überhaupt nicht in den Zusammenhang seriöser Literatur, obwohl das Stück von einem Herrn mit goldener Brille und schwarzem Anzug verfaßt worden war, und es steht zu befürchten, daß meine Tante, wenn sie aus einem anderen als aus Stephans Mund von dieser Gattung erfahren hätte, an harten Worten für ihre Klassifikation nicht gespart hätte. Aber war es möglich, daß ein Mensch wie Stephan Schund goutierte? Unversehens stellte meine Tante das ihr anerzogene System zur Beurteilung von Literatur um: Plötzlich war alles, was Stephans Gnade fand, Kunst, und wenngleich dies Kriterium sicherlich ebenso anfechtbar war wie diejenigen, die sie aus dem romanistischen Seminar bezogen hatte, besaß es doch vor diesen einen unschätzbaren Vorteil: Es bewirkte, daß meine Tante das Werk, das diesem Maßstab entsprach, liebevoll ansah, und dazu hatten sie die musterhaftesten akademischen Interpretationen bisher nicht bewegen können. Die Liebe behandelte die Konstruktion des Gefühlslebens meiner Tante wie eine kabbalistische Pyramide: Man bekam gar nicht mit, was in dem zarten Gebäude seelischer Werte eigentlich verrückt oder ausgetauscht worden war, aber die Pyramide stand geisterhaft auf einmal auf dem Kopf. In dieser Lage vernahm meine Tante die Wunder der Rue Chaptal, und was ihr in einer anderen Situation roh und geschmacklos erschienen wäre, war nun englische Musik in ihren Ohren.
»Zuerst saßen sie alle ganz friedlich zusammen am Eßtisch, die beiden Frauen und der Sohn«, sagte Stephan. »Das Ganze spielte in einem Landhaus, beinahe einem Schloß, an die Wände waren Quader gemalt und ein Wappen hing über dem Kamin.«
»Brannte der Kamin?« fragte meine Tante mit gesteigerter Neugier, ungeachtet ihres Referats, das sie neulich noch vor dem Lehrerbildungsverein über Brechts Verfremdungstheorie auf dem Theater gehalten hatte.
»Ach, das war toll gemacht«, rief Stephan und griff mit Begeisterung nach ihrer Hand. »Das hat so richtig aus dem Kamin herausgeflackert, ein rötlicher Feuerschein, sonst brannten nur ein paar Kerzen, und dann verschwanden die Gesichter auf einmal |287| im Dunkeln, und dann waren sie plötzlich wieder beschienen – das war schon gleich zu Anfang eine unheimliche Atmosphäre. Wie die das nur gemacht haben?« Beide schüttelten vor Staunen den Kopf und hatten gar nicht erst die Hoffnung, solch ausgepichte Effekte aufzuklären.
»Elektrisch vielleicht?« sagte meinte Tante, weniger in durchschauender Absicht, als um die Bühnenerscheinung endgültig aus der Sphäre der Laienvermutung zu rücken. Stephan ließ das Thema fallen. Durch die Beschreibung des Feuerscheins war ihm alles wieder eingefallen, was seine Nerven im dunklen Saal gereizt hatte, vornehmlich aber die Wolke der Gerüche, die der Luft dort eine dichtere Substanz zu geben schienen. Gelegentlich erreichte ihn ein Hauch des Parfums, das die Begleiterin von Monsieur de Lorde trug, eine essenzschwere Mixtur aus Zimt und Nelkenölen, von dem Flügel ihres Hutes gleichsam zu ihm hin gefächelt. Auch Beizendes hing im Raum, überalterte Luft, die ihren abgestorbenen Charakter aber in der Erwärmung durch die vielen Menschen verloren hatte. Dem kalten Staub und Rauch waren süße Elemente beigemischt, und wenn es auch an Sauerstoff fehlte, war doch das leichte Ersticken, das die Lungen fühlten, nicht bedrohlich, sondern behinderte das freie Atmen nur wie ein seidenes Kissen, das in launischem Spiel dem Schlafenden aufs Gesicht gelegt wird. In diese Komposition hinein wehte, als sich der Vorhang hob, der Duft der Schminke, des Pappmachés, der Farben und Perücken, nicht anders als der Heilige Geist in das verschlossene Zimmer zu Jerusalem geweht war und alles verändert hatte. Auch im Theatersaal war durch den Bühnenduft die Welt eine andere geworden. Das Leben der Zuschauer setzte für eine Stunde aus. Es vereinigte sich zu einer Art von kollektivem Gesamtleben und fand für alle auf der Bühne statt, während die einzelnen im Dunkeln als leere Gefäße darauf warteten, mit neuem Leben angefüllt zu werden oder wenigstens ihr altes zurückzuerhalten.
»Man merkte sehr schnell, daß der Mann den Sohn der einen Frau darstellte«, sagte Stephan, obwohl er es damals eigentlich nicht besonders schnell herausbekommen hatte, weil sein Französisch |288| noch nicht mühelos lief und weil der Schauspieler genauso alt aussah wie die Frau, die seine Mutter sein sollte und die infolgedessen in einem stummen
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