Das Bett
Krieges in Paris lebte, los und ledig von allem, was ihn in Frankfurt, die alte Agnes bei aller Liebe mit eingeschlossen, bedrückt hatte, waren seine Sinne bereit, aufzusaugen, was sich ihnen bot. Niemals später in seinem Leben besaß das Reich der Farben und der Gerüche, der Klänge und der Berührungen eine solche Ausbreitung im Innern seiner Seele.
|278| Seine Ankunft in Paris, nach den vielen Stunden auf der Nationalstraße Numéro trois, hatte ihn beinahe betäubt. Erst hier fühlte er die köstliche Sicherheit, endlich allein zu sein. Stephan erlebte, was ein Kurzsichtiger erlebt, der seine erste Brille aufsetzt und der zurücktaumelt vor der Fülle der Einzelheiten, die er nun zum erstenmal sieht und die er sich niemals vorzustellen gewagt hat. Stephans Auge war schon von der Autofahrt her an das Grau der Steine Frankreichs gewöhnt. Was er nun sah, als er auf einem großen Boulevard anhalten ließ, wo sich diese Straße auf einen weiten Platz hin öffnete, war eine Staffelung der Grautöne, nur vergleichbar mit den Gesetzen der Schwarzweißphotographie, die in ihren Abtönungen anstrebt, für jede existierende Farbe ein Äquivalent in Grau zu finden. Genauso enthielten die grauen Gebäudemassen von Paris eine überwältigende Farbigkeit, denn Stephans Auge begann unwillkürlich, sich die Abstufungen des Graus, wie es auf Dächern, Mauern und Gesimsen, im Himmel und auf der Oberfläche des Wassers lag, in entsprechende Farben zu übersetzen – wie ein feiner milchiger Hauch von Schimmel und Staub über einem mit bunten Steinen kostbar eingelegten Möbel verbarg und schützte zugleich die hellgraue Aura den schimmernden Leib dieser Stadt. Stephan trank mit seinem Chauffeur wie schon in Châlons-sur-Marne in einem einfachen Café ein paar Gläser von einem Weißwein, der eine bescheidene, blasse Säure hatte und beim Hinunterschlucken die Ahnung von Mandelbitterkeit im Gaumen entstehen ließ. Er kam ihm vor wie das dünne Blut aller Grauheit. Hier verließ ihn der Fahrer, um das Auto zurück nach Deutschland zu bringen, es war schon an den Nachfolger der Korns in der Autoreifenfabrik übertragen worden. Stephan blieb zurück. Das Netz aus Fürsorge, Bedienung, Maßregelung, Erziehung und Pflege war zerrissen.
»Stell dir vor«, sagte Stephan zu meiner Tante, »eine kleine enge Straße in der Nähe des Montmartre, die Rue Chaptal.« Wie diese Straße, die meine Tante, die noch nie in Paris gewesen war, sich vorstellen sollte, genau aussah, hätte auch Stephan nicht mehr sagen können. Das Übermaß an Eindrücken, die er in Paris empfangen hatte, eine sinnliche Spannung, die ihm gnadenhalber |279| von oben geschenkt worden war und die ihm die Empfindung gab, er könne, was er mit Augen sehe, zugleich auch auf der Zunge schmecken, hatten ihn schließlich verwirrt. Stephan vermied in neuerer Zeit, an Paris zu denken, weil diese Erinnerungen ein Schwindelgefühl in ihm erzeugten, eine rasende Bilderflucht in seinem Gehirn. Mit zerstörender Leichtigkeit tauchten ungerufene Tableaux vor ihm auf und verschwanden, bevor er die Chance hatte, sie zu identifizieren, geschweige denn sie zu halten. In seinem Gedächtnis sah es aus, wie wenn man an einem Radio die Sender in größter Geschwindigkeit wechselt. Aus anfänglich noch wahrnehmbaren Musik- und Sprachfetzen entsteht schließlich nur noch ein auf- und abschwellendes Quietschen. Stephan schloß dann die Augen, schüttelte den Kopf und versuchte, etwas Starkes zu trinken zu finden. Er hätte nicht einmal mehr sagen können, wie er überhaupt in die Rue Chaptal gefunden hatte, die weit ablag von den Regionen, in denen er sonst seine Streifzüge machte, denn Stephan war bei seinen zahlreichen Fehlern gänzlich frei von jeder Form der Neugier, auch in ihrer sozialen Spielart, und hielt sich grundsätzlich nur auf, wo er nach eigenem und allgemeinem Urteil auch hingehörte.
Wann immer jemand, der uns ein außerordentliches Erlebnis erzählt, mit der Einleitung beginnt, er wisse eigentlich gar nicht, wie er habe in eine Gegend geraten können, wo ihm solches zugestoßen sei, ist Mißtrauen geboten. Die Menschen schweifen in den seltensten Fällen ahnungslos und ohne wirkliches Ziel durch die nächtlichen Städte; gerade auch der offenkundige Bruch mit der Gewohnheit bleibt erfahrungsgemäß sicher im Gedächtnis haften.
Auch Stephan hätte sich gewiß daran erinnert, wie er in die Gegend der Rue Chaptal gekommen war, wenn der Anlaß zu diesem Ausflug nicht aufgrund
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