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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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hatte, hauchte |282| diesen Menschen erst die Seele ein, vor Stephan hatten sie überhaupt nicht existiert, und später lebten sie nur, solange sie an Stephan teilhatten. Erst die Bilder aus den abendlichen Mietskasernen zeigten ihm, daß es Milieus gab, die nichts mit ihm zu tun hatten, weil ihr Gedeih und Verderb in keiner Hinsicht mit seinem eigenen Glück und Unglück in Verbindung stand. Welche Träume mochten die Frau am Spülstein verfolgen, welche Qualen hatten ihr Leben zerstört, welches Glück erlebte sie in den Armen des Mannes, der im Unterhemd seine Suppe löffelte und seine Zeitung las? Nur eins stand fest, daß in keinem ihrer Gedanken auch nur der geringste Raum für Stephan war.
    Eine tiefe Eifersucht auf die Menschen, in deren Leben er diesen flüchtigen Einblick getan hatte, überfiel ihn. Aus der Erkenntnis, daß in den Häusern am Bahndamm ebenso geliebt und gehofft wurde wie in den Wohnungen, die er kannte, wurde der beunruhigende Verdacht, daß gewisse entscheidende Dinge, von denen er wahrscheinlich nicht den Deut einer Ahnung hatte, überhaupt nur dort möglich waren. Plötzlich war er vollkommen sicher, daß die Frau am Spülstein, von der er augenblicklang nicht mehr als ihr verlorenes Profil gesehen hatte, dem Zeitungsleser eine Lust bereiten würde, und zwar sehr bald, nachdem dieser die Suppe gegessen hatte, von der ihm nicht einmal zu träumen erlaubt war, die vielmehr alles überstieg, was ihm selbst zu erleben bestimmt war, selbst wenn es ihm glücken sollte, die Liste des Don Giovanni um die doppelte Zahl zu überrunden. Jeder Genuß, an den er sich erinnern konnte, kam ihm auf einmal als ein ödes Surrogat für die wirklichen, ihm nicht zukommenden Genüsse vor. Er betrachtete seine Jugend und Gesundheit mit Entsetzen: Wie lang würde dies Leben noch dauern! Er fühlte sich zu schwach, um noch dreißig oder vierzig Jahre lang ohne die Erfahrung der eigentlichen, ihm vorenthaltenen Schönheiten der Erde weiterzuleben, und er fürchtete zugleich, daß er vergessen könnte, daß alles, was ihm zustieß, niemals das Große war, das in anderen, ihm unbekannten Leben geschah. Ängstlich malte er sich die Zeit aus, in der die ständige Entbehrung ihn seelisch dermaßen ausgehöhlt haben würde, daß er der süßen Versuchung |283| zur Täuschung erlag und das, was sich in seinem eigenen Leben ereignete, in Zukunft für wahr und ganz hielt.
    Dies Gefühl der Ausgeschlossenheit hatte ich schon früh kennengelernt. Ein kleines Tier hatte meine Träume erstickt, oder besser in Spekulationen ohne jede erlösende Poesie verwandelt. Die Vorstellungen, die ich mir nach der Lektüre von Gustav Schwabs Sagenerzählungen vom Leben der Götter und Helden in der Antike zurecht gemacht hatte und die mein heimliches Glück bildeten, zerrannen mir unter den Händen, als ich in einem für Kinder herausgegebenen naturwissenschaftlichen Almanach las, daß es die Purpurschnecke, das kleine Lebewesen, das in der Alten Welt den Grundstoff der königlichen Farbe bildete, schon lange nicht mehr gebe. Sie sei ausgestorben. Was die Phönizier und die Griechen Purpur genannt hatten, war nicht nur nicht mehr herstellbar, sondern unbekannt geworden. Gewiß, es stand fest, daß Purpur ein dunkles Rot war, aber welchen Charakter dieses Rot hatte, das konnte niemand mehr mit Bestimmtheit sagen. Mit diesem Hindernis rückte die Zuflucht meiner Phantasie in unerreichbare Ferne. Nie würde ich genau wissen, welcher Farbton meinen Helden Ehrfurcht und Entzücken eingeflößt hatte, niemals könnte ich mich in der Betrachtung dieser Farbe mit ihnen vereinigen und versuchen, ob auch mir das Herz vom Anblick des Purpurs höher schlug. Was war überhaupt ein König, wenn man nicht wußte, ob der rote Mantel der Krönungszeremonie wirklich Purpur war? Es gab Tage, an denen ich glaubte, aus dem Klangbild, das dem Gurren der Tauben verwandt war, den wahren Purpurton erschließen zu können. Ich war dann sicher, daß dies außergewöhnliche Wort in genauer Äquivalenz zu dem Farbton, den es bezeichnete, geschaffen worden war. Purpur, so schien mir dann, müßte entstehen, wenn sich frisches, hellrotes Herzblut, das in Stößen aus dem Körper spritzt, mit einer dicken anthrazitfarbenen Tinte mischte. Alsbald aber wurde mir klar, daß die Menschen der alten Zeit das Wort Purpur zwar in getreuer Nachahmung der Farbe geschaffen hatten, wahrscheinlich aber etwas ganz anderes dabei empfanden und hörten, als ich es tat, der ich, von den

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