Das Bett
schönsten Rollen, denn er entdeckte in ihnen eine Sympathie für die unheilvolle Zerrüttung des menschlichen Geistes, die ihn selbst mit diesen Ärzten verband. Selbst wer nun gerade nicht das Stück, das Stephan kannte, gesehen hatte, hätte Stephans Gedächtnislücke, ob der Arzt schon während des Essens dabei gewesen sei oder nicht, mühelos schließen können: Die Psychiater bei Monsieur de Lorde kamen immer zu spät. Sie traten stets erst auf, wenn der Wahnsinn schon von seinem Opfer Besitz ergriffen hatte und schwerlich etwas zu retten war, und also konnte der Arzt gar nicht an dem Essen des Sohnes, der Mutter und der Dritten teilgenommen haben, denn zu Beginn des Mahles war der Sohn ja noch nicht verrückt. Er war still, aber das wunderte Stephan nicht, denn er glaubte, nach längerer Zeit in Einsamkeit mit der Blonden und der Schwarzen selbst schweigsam geworden zu sein. Die beiden Frauen sprachen nicht mit ihm, sie waren mit sich selbst beschäftigt. Wie er erst die Blonde, dann aber die Schwarze musterte, war zwar sonderbar, stand aber in Harmonie mit dem Inszenierungsstil, der die Schauspieler nötigte, alles mit etwas mehr Aplomb als im täglichen Leben auszuführen.
Meine Tante kannte die Angst vor dem Gewitter, obwohl sie sie nicht teilte. Meine Mutter trieb die ganze Familie durch die Wohnung, wenn die ersten Donner in weiter Ferne zu hören waren und der Sommerhimmel sich gelbschwarz verfärbte. Nicht nur die Polster der Balkonmöbel wollte sie schützen, nicht nur alle Fenster schließen, sie zog auch den Radiostecker aus der Wand und verbot, daß man in der sich allmählich verfinsternden |295| Wohnung elektrisches Licht machte. Aus rein physikalischen Erwägungen, die sie undeutlich vor sich hinmurmelte, verlangte sie, daß wir, obwohl wir in der Stadt und nicht in einem einsamen, strohgedeckten Haus an der Nordsee wohnten, den Ablauf des Gewitters bei Kerzenlicht erwarteten, und zu diesem Zweck brachte sie alsbald eine Kerze herbei, die sie anzündete und bei deren Licht man erkannte, daß es sich um eine schwarze Kerze handelte, wie sie in Wallfahrtsorten eigens für die Abwendung jedes Gewitterschadens verkauft wird. Erst beim Schein dieser Kerze begann sich meine Mutter zu beruhigen. Sie legte mir dann in beinahe leichtfertigem Ton dar, wie gering die Bedrohung durch den Blitzschlag in der Großstadt eingeschätzt werden dürfe, überall seien wir von höheren Häusern umgeben, die obendrein noch den Blitz mit Schornsteinen anzögen, die den Wolken erst recht näher standen als wir. Mit meinem Vater begannen wir, die Entfernung des Gewitters zu errechnen. Nach jedem Blitz, der unsere Zimmer erhellte, zählten wir die Sekunden bis zum folgenden Donnerschlag, worin wir freilich von meiner Mutter nicht ermutigt wurden, weil sie es als frivol empfand, angesichts elementarer Gefahr die Haltung experimentierender Distanz aufrechtzuerhalten, und das sie gleichwohl nicht verhinderte, weil ihr das wissenschaftliche Sekundenzählen einen Trost bescherte, der den halben Trost der schwarzen Kerze ein wenig ergänzte.
Meine Tante erklärte mir, ihre ältere Schwester habe als ganz kleines Kind noch das Bombardement der Festung Ehrenbreitstein erlebt, als brummende Doppeldecker aus Frankreich herübergekommen waren, um an diesem östlichsten Punkt ihrer Reichweite am hellichten Tag ihre Bombenlast abzuladen. Selbst wenn aber die verzweifelte Flucht in den Armen ihrer Mutter, die auf der menschenleeren Rheinbrücke von den fliegenden Ungeheuern überrascht worden war, sich so tief in das Gedächtnis des kleinen Mädchens eingegraben haben sollte, daß auch der erwachsenen Frau eine bleibende Angst vor Donner und Blitz geblieben war, war es doch bemerkenswert, wie meine Mutter dieser Angst Herr zu werden versuchte. Halbherzig |296| bemühte sie die Mächte der Religion und der Wissenschaft, keine der beiden leugnend, aber auch keiner wirklich vertrauend, und erwies sich darin als Kind einer Epoche, die noch keinen wohltönenden Namen ihr eigen nennt, deren Beginn aber wohl dort zu vermuten ist, wo die Ära der »bürgerlichen Aufklärung« ihr Ende gefunden hat.
Meine Tante war meiner Mutter für ihr panisches Zeremoniell bei Gewittern im Grunde dankbar, obwohl sie Gewitter über alles liebte. Über die meisten ihrer Wünsche ging meine Familie achtlos hinweg; die Aufregung aber, die meine Mutter befiel, wenn die Blitze zuckten, gab meiner Tante die Möglichkeit, ihren Sturm, ihren Wolkenbruch und das
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