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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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einer großen Idee auf einem Gesicht, das vorher stumpf und verdrossen dreingesehen hatte. Die Zuschauer erlebten, wie einem Menschen, der in jahrelanger Finsternis vegetiert hatte, buchstäblich und Stück für Stück die Schuppen von den Augen fielen. Es war nicht ein teuflischer Plan, der von dem kranken Hirn des Sohnes allmählich Besitz ergriff, es war die Klarheit, die Wahrheit, die Begeisterung der endlich doch noch erlangten Gewißheit. Jedermann im Saal vollzog den Gedankenschritt des Sohnes mit, jedem wurde die neue Kombination der Wirklichkeit zur zwingenden Vorstellung: Hier rollte der blutige Braten träge auf der Platte hin und her, hier blitzte das lange Tranchiermesser, die stabile, langzinkige Gabel, dort erhob sich die makellose Halsrundung der sich in ahnungslosen Klagen ergehenden blonden Frau. Nach kurzer beklemmender Pause nahm der Sohn seine Kraft zusammen und stieß die Gabel tief in den Braten hinein, der augenblicklich zu rollen aufhörte, als habe ihn sein Meister soeben erst erlegt. Ein Aufseufzen ging durch den Saal, die ersten Taschentücher wurden gezogen, um Stirnen zu betupfen, als ein neuer Vorgang jede eigenständige Handlung im Publikum wieder erstarren ließ.
    Stephan sah einen Moment lang nicht, was geschah, denn Monsieur de Lorde hatte sich samt der Begleiterin mit dem Flügelhut erhoben und strebte geduckt, um niemanden zu stören, |301| zum Ausgang. Stephan sah ihm voller Bewunderung nach. Da ist das Laienauge ganz zufrieden und findet alles perfekt, und da sieht das Künstlerauge immer noch etwas, das man besser machen könnte, und ist ewig unzufrieden und arbeitet weiter, und wo eben alles noch fertig aussah, da wird es auf einmal noch viel schöner, dachte Stephan, während er das nervöse Paar auf Zehenspitzen verschwinden sah, und es hätte Willy Korn gutgetan, wenn er diesen Reflexionen seines Sohnes gefolgt wäre, weil Stephan, der ihm oft fremd vorkam, sich eben gerade einmal eines seiner Lieblingsausdrücke bedient hatte: »das Laienauge« war für ihn ein Begriff von biologischer, ja medizinischer Aussagekraft. Stephan aber bereute seine zärtliche Nachdenklichkeit, denn sie war schuld, daß ihm etwas entgangen war. Ein markerschütternder Schrei aus zwei Frauenkehlen, ein Schrei, der das Blut in den Adern stocken ließ, weckte ihn aus seinen Überlegungen und bannte seinen Blick aufs neue auf die Bühne. Dort herrschte der Schrecken. Der Sohn hatte den blutigen Braten ins Feuer geschleudert, die frei gewordene Gabel in den Himmel gereckt und war drauf und dran, sie in den Hals der Blonden zu stoßen. Die Schwarze begann einen Ton auszustoßen, der rein und schrill wie der einer Ventilpfeife war, die Blonde stürzte mit dem Stuhl hintenüber, die Schwarze schlug eine Flasche Rotwein auf dem Kopf des Sohnes entzwei, alles schwamm alsbald im Rot, als gräßliches Vorzeichen für einen dickeren Saft. Der Sohn, durch den Schlag verletzt und abgelenkt, steckte der Mutter die Gabel zunächst einmal einfach in den Oberschenkel, gleichsam um sie loszuwerden, und wandte sich nun mit dem Messer der Schwarzen zu. Unter dem Schmerzgeheul der sich auf dem Boden windenden Blonden begann ein stummer Kampf zwischen der Schwarzen und der Bestie, ein Kampf, der bald beiden Kämpfern gleiche Chancen gewährte, denn der Sohn hatte sein Messer verloren, als ihm die Schwarze am Handgelenk die Pulsadern aufbiß, und was er an Massigkeit mitbrachte, das glich sie durch Zähigkeit und Wendigkeit aus. Dennoch schlug das Ende des Dramas beinahe vor der Zeit, als nämlich die Köpfe der einander umkrallt Haltenden sich dem Kaminfeuer näherten, |302| und Stephan sah schon vielfältigen Untergang voraus, als die Tür aufsprang und zwei Männer, davon einer mit Chauffeursmütze, hereinstürzten, »Mein Gott, was sehe ich!« riefen und unter dem gellenden Geschrei der unverdrossen blutenden Blonden den Wahnsinnigen überwältigten.
    Der Pausenvorhang verdeckte die unwirtlich gewordene Szene. Die Zuschauer blinzelten sich an und fanden nur schwer auf den Boden des täglichen Lebens zurück. Schließlich überwand man sich allgemein und klatschte in die Hände, manche begannen zu lachen, und dann schließlich löste sich der Zauber in einer haushoch anbrandenden Woge zahlreicher, durch das Grauen wohltuend beflügelter Gespräche.
    »Das war ja erst der harmlose Akt«, sagte Stephan, »ob ich den andern Akt überhaupt erzählen kann, weiß ich gar nicht.« Meine Tante antwortete ihm mit keiner

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