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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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durften die Frauen mehr versäumen, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Statt dessen war der Sohn für sie nicht mehr auf der Welt, sie hatten keine Augen für ihn und sollten dadurch wertvolle Zeit für die Flucht verlieren.
    Meine Tante war übrigens keineswegs verblüfft, daß dem Unheil im einsamen Landhaus kein Hindernis in den Weg trat. Das Unheil hatte auf Erden das größere Lebensrecht als das Heil, das vor allem nie zu wirklichem und dauerndem Heil wurde, selbst wenn es sich banalerweise zunächst einmal durchsetzte. Stephan hingegen konnte sich über die törichte Ahnungslosigkeit der Frauen nicht genug erregen: Bis in die letzte Reihe sah jeder, was sich vorbereitete, nur die verstrittenen Weiber, die daneben saßen, hatten keine Zeit, sich mit dem Nächstliegenden zu befassen. Stephan fühlte noch das Entsetzen, als er begriffen hatte, daß der Sohn sich den langen Braten genau ansah, alsbald aber den schwellenden, blütenweißen Hals der Blonden zu studieren begann, gefesselt innehielt, dann wieder auf den Braten guckte, eine ähnliche Dicke wie die des Halses feststellte und spielerisch und nachdenklich zugleich das Fleisch auf der Platte hin- und herrollte, auch wohl, als wolle er es rasieren, auf dem Bratenstück mit dem langen Tranchiermesser entlangschabte.
    Der Hals der Blonden war freilich ein unter vielerlei Gesichtspunkten herausforderndes Gebilde. Ein Anatom hätte beim Anblick dieses Halses gestutzt und ihn mit Begriffen belegt, |299| die lateinisch umschreibend eine pathologische Verwandtschaft zum Kropf suggerierten. Nichts wäre aber weniger zutreffend gewesen. Ein Kropf ist ein geblähter und gestopfter Sack, auf dem das Kinn wie auf einem unförmigen Postament ruht. Die ungewöhnlichen Schwellungen des Halses der Blonden hingegen waren wie aus der kühnsten Künstlerphantasie entsprungen, ja, er war genaugenommen schöner als die verrücktesten Hälse der Kunstgeschichte zusammen: nicht so raupenartig wie bei Parmigianino, nicht so muskulös wie bei Michelangelo, nicht so marmorn wie bei Ingres. Der Hals der Blonden sah aus wie ein wohlgeformter, aber weiter nicht auffälliger Hals, wenn sie den Kopf geradhielt oder auf ihren Teller sah. Er offenbarte seine volle Gestalt erst, wenn sie ihren Kopf in den Nacken legte, wie ein zylindrischer Papierlampion, dem man an der einen Seite Boden und Deckel zusammenkneift, auf der anderen Seite einen schwellenden Bogen entfaltet. Die Blonde legte den Kopf häufig in den Nacken, vornehmlich wenn sie entrüstet war, denn sie beschimpfte ihre Gegnerin nicht ins Gesicht hinein, sondern verklagte sie gleichsam bei einer höheren Instanz. Der Hals trat dann beinahe an die Stelle des Gesichts. Man glaubte, niemals ein geformtes Stück Fleisch mit einer edleren Plastik gesehen zu haben. Kein Hintern, kein Bauch war so rätselhaft reines Fleisch wie dieser Hals, der sich aus den Zusammenhängen des Körpers löste und nicht nur voll, kühl und rund wie der Mond war, sondern auch den milchigen Schein des Mondes um sich verbreitete. Jedermann im Saal war von diesem körperlichen Wunder geblendet und durch den fesselnden Gegensatz vexiert, daß dieser Wölbung die kreischende Stimme des Pfaus entstieg und nicht der hypnotisierende Gesang eines Mezzosoprans. Es lag auf der Hand, daß der Sohn von diesem Anblick verzaubert sein mußte, auch wenn er ihn schon hundertmal hatte aushalten müssen. Und doch, heute war es ein neuer Gedanke, den der Hals seiner gleichaltrigen Mutter in ihm auslöste. Es war, als spüre er zum erstenmal, welche Empfindung ihm der Hals der Blonden wirklich bereitete.
    Stephan machte das nach, oder besser, er versuchte, meiner |300| Tante einen Begriff von dem Prozeß zu geben, der sich auf dem Gesicht des Sohnes abgespielt hatte, indem er mit finsterer Miene seinen Blick zwischen der Schwarzwälder Kirschtorte und dem in einem hellgrünen Häkelschal verborgenen Hals meiner Tante schweifen ließ. Meine Tante war von seinen Bemühungen gerührt und sekundierte ihnen mit kleinen Ausrufen, die Stephan zeigen sollten, wie deutlich ihr alles vor Augen stehe. Sie hatte sich dabei längst in ihrer Phantasie ein Bild von der Szene gemacht, das der Wahrheit weit näherkam, denn natürlich hätte der Schauspieler nicht einen ganzen Saal voller Großstädter lähmen können, wenn er wie Stephan das Gesicht eines schmollenden Säuglings, dem man den Schnuller vorenthält, geschnitten hätte. Was wahrhaft überwältigend wirkte, das war die Epiphanie

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