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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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mumifiziert erhalten wie Johanna die Wahnsinnige den Leichnam ihres hohen Gemahls, das logische Gedächtnis hingegen war unterdessen müßig geblieben, und Stephan mußte sich eingestehen, daß ihm große Stücke der Handlung entweder schon damals entgangen waren oder inzwischen im Orkus der Vergessenheit ruhten.
    Er sah nur noch Fetzen der Handlung vor sich: die Schwarze hochaufgerichtet mit einer Spritze in der Hand, die sie mit gellendem Hohngelächter auf den Boden wirft und dort zertritt; der Arzt, der mit inzwischen fast gebrochener Stimme allerlei sagt, zum Abschied der Schwarzen noch einmal scheu zwischen die Beine zu tappen versucht und einen Schlag mit dem Schüreisen auf das Handgelenk bekommt; die tiefe Nacht, in der das Haus zur Ruhe gekommen zu sein scheint; die Schwarze, die noch einmal |311| ins Zimmer huscht, sich über den schlafenden Sohn beugt, ihn hin- und herwälzt und an seiner Zwangsjacke herumnestelt, man hört ein Klicken, ein Scharren, aber sieht nicht recht, was sie eigentlich macht; dann schleicht sie wieder hinaus; zu Füßen des schlafenden Irren brennt eine Kerze – halt, nicht zu Füßen, unter einem Fuß, genau darunter!
    Der Wutschrei des Wahnsinnigen traf die Zuschauer aus der Stille heraus wie ein Schlag in den Magen. Alle wurden buchstäblich nach vorn geworfen, als säßen sie nicht in einem Theater, sondern in einem Omnibus, der scharf gebremst hat. Schlimmeres stand bevor: Der Sohn springt auf, er schüttelt sich, die Zwangsjacke fliegt ihm vom Körper, er ist frei. Und da – wie ein Rasiermesser fällt ein gelber Lichtstrahl ins Zimmer, die Tür ist aufgemacht, die dämliche Blonde kann es nicht lassen, sie wähnt sich sicher, muß unbedingt noch einmal nachgucken, diese Eigenschaft von ihr kannte die Schwarze natürlich, darauf war alles berechnet, jetzt liegt es klar zutage. Das Monster und die Frau erblicken sich im selben Augenblick; die Geräusche, die sie nun von sich geben, übersteigen das menschliche Fassungsvermögen. Ah, ihr schöner, ihr einzigartiger Hals, der sich im Entsetzen dem Ungeheuer entgegenwölbte, weil die Blonde den Anblick der Bestie nicht mehr ertragen konnte. Wenn Stephan sich an diese Szene erinnerte, mußte er sich unwillkürlich an den Kragen greifen, er bemerkte auch, daß ihm das Schlucken weh tat und spürte die Bewegungen des Adamsapfels mit Schaudern.
    Was nun geschah, sprengte die Grenzen dessen, was sich die landläufige sadistische Phantasie vorstellen konnte. Monsieur de Lorde zitterte bei dem Gedanken, daß der Effekt, den er einer schlaflosen Nacht im Triumph abgerungen hatte, irgendwie verpatzt werden könnte, »wie, beiläufig erwähnt, bei der Generalprobe schon geschehen«. Er war der einzige im Theater, der noch die geistige Kraft zu kalkulierenden Gedanken fand, denn schon seine Begleiterin, die das Stück längst aus den Proben kannte, saß vornübergebeugt und umklammerte die Sessellehne des vor ihr sitzenden Mannes, der sich seinerseits mit brennendem Blick an der Lehne seines Vordermannes festhielt. Der wesentliche |312| Eindruck, der Stephan von dieser Szene blieb, war eine Woge, die alles überschwemmte und in der alle Empfindungen und Ängste ertranken. Das war eine Woge von Blut, die in mächtigem Strahl aus der blütenweißen Kehle der Blonden schoß, nachdem sie den Biß ihres Sohnes empfangen hatte. Zu dem Erlebnis des Wegspülens trug auch das sofortige Verstummen der Blonden bei; nachdem der rasende Sohn zugebissen hatte, herrschte Ruhe, es war ein Gefühl, wie im tiefen Schnee zu wandern. In diese verzauberte Befangenheit platzte ein häßliches kleines Geräusch, ein Klumpen fiel auf den Bühnenboden, der Sohn hatte ihn herausgewürgt und stand nun über ihn gebeugt da, ihn teilnahmsvoll betrachtend, wie ein Kind einen Käfer anschaut, dem es zwei Beine ausgerissen hat. »Ihre Gurgel«, flüsterte der Nachbar Stephans und wandte den Kopf ab.
    Stephan brauchte Zeit, bis er verstand, was sich abgespielt hatte. Wie mit einem Hammer betäubt, wankte er zur Ausgangstür. Die Dame mit dem Flügelhut, die eine Stimme hatte, deren Schwingungen das Beifallsrauschen zerteilte, obwohl sie nicht laut sprach, mußte Monsieur de Lorde beruhigen. Der Autor war verstört und den Tränen nah.
    »Chéri, Sie sind der Alte, glauben Sie mir. Das Ganze hat sehr nett gesessen, und der Maxa gebe ich höchstpersönlich einen Tritt in den Arsch. Fassen Sie sich, Sie müssen jetzt den ›Fürst des Schreckens‹ machen.« Dieser Hinweis

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