Das Bett
sondern dabei auch süß, wie der Atem eines kleinen Kindes, dessen Magen und Speichel noch neu und zart sind, weil sie die Prozesse von Gärung, Verdauung und Selbstreinigung noch wie im Spiel betreiben und nicht in immer mühevollerer, schließlich vergeblicher Arbeit. Eine ganz unvermutete Frische offenbarte sich Stephan, meine Tante begann sich vor ihm zu verjüngen, als ob sie mit einem Zauberstab berührt worden sei oder als ob seine Augen vom Star befreit worden wären. Stephan sagte gedankenverloren vor sich hin: »Ach Gott, was war das schlimm, das war vielleicht schlimm«, und ließ diesen Bemerkungen nichts mehr folgen. »Was war schlimm?« fragte meine Tante nach einer stummen Weile mit sehr sanfter Stimme.
Die Erzählung war beileibe nicht an ihrem Ende angelangt. Das Publikum holte tief Atem, wie es die Passagiere einer Achterbahn |309| tun, wenn ihre Erfahrung mit diesem teuflischen Vergnügungsgerät ihnen sagt, daß sie alsbald ins Bodenlose stürzen werden. Stephan stellte zu diesem Zeitpunkt fest, daß das Theater eine feste Gemeinde haben mußte. Ein unterdrücktes Wispern ging durch die Reihen, weil Kenner sich untereinander ihre Vermutungen über den Ausgang mitteilten, über den nur sicher war, daß er an Grausamkeit den des ersten Aktes überbieten mußte. Die Blonde hörte unterdessen die knallenden Schritte der Schwarzen, der es weiß Gott nicht um Diskretion zu tun war, und stieß den Doktor von sich, indem sie mit verlogener Förmlichkeit für seine Mühe dankte und erklärte, sich kurz frisch machen zu müssen. Ihren humpelnden Abgang verfolgte die Schwarze mit kohlpechrabenschwarzem Blick, sie machte keine Anstalten, der verwundeten Gefährtin wenigstens der Form halber vor Dritten beizustehen. Kaum war die Blonde aus der Tür, fuhr die Schwarze zischend zum Doktor herum und warf ihm beleidigende Sätze an den Kopf. Der ging um den sich am Boden windenden, würgende Geräusche von sich gebenden Sohn herum, indem er dem Rasenden noch beiläufig einen Tritt mit dem wie eine neue Lokomotive funkelnden riesigen Stiefel gab, stellte sich vor die Schwarze und fuhr ihr mit der Hand, die eben noch auf dem Schenkel der Blonden geruht hatte, in einer Manier über den Hintern, die sich keine Mühe gab, zu verbergen, daß es hier um die Demonstration eines wohlerworbenen Rechtes und nicht um eine kühne Zärtlichkeit ging. Die Schwarze reagierte darauf wie eine wütende Katze. Selbst der gewaltige Arzt war schwach genug, um seine Augen zu fürchten, die Brille flog durch das ganze Zimmer und offenbarte kleine schwarze Augen, die wie schrumplige Rosinen mit dem Daumen tief in den Hefeteig des Gesichts hineingedrückt aussahen. Der Arzt befand sich auf dem Rückzug, bei dem Tappen nach seiner Brille verlor der potente Riese seinen Schrecken, er wirkte hilflos und rührte beinahe, allerdings nur das Publikum, denn die Schwarze platzte fast vor einem hustenartigen, bellenden Gelächter.
Stephan empfand gerade diesen Auftritt als besonders widerlich. Er liebte nicht, dabeizusein, wenn irgend jemand dekuvriert |310| wurde. Selbst wenn man die Erfahrung berücksichtigt, daß wir unsere Moral im Umgang mit anderen gewöhnlich an unseren ureigenen Bedürfnissen ausrichten und ihnen ohne weiteres unsere eigenen Unempfindlichkeiten zumuten, während wir ihren Schwächen, solange sie den unseren gleichen, volles Verständnis entgegenbringen, und selbst wenn man daraus folgert, daß Stephan anderen Schonung angedeihen lassen wollte, weil er selbst den strengen Blick auf seine Person fürchtete, darf ihm doch eingeräumt werden, daß ihn seine geheime Sorge zu menschenfreundlichen Anschauungen geführt hatte, deren Großmut durch die eigensüchtige Quelle, aus der sie floß, nicht getrübt wurde.
Stephans Abneigung, sich über seine Stimmungen Rechenschaft zu geben, ist bekannt. Und dennoch war er voller Mitleid für den seiner Stärke beraubten Arzt auf der Bühne und hätte ihn am liebsten durch lautes Zurufen aus dem Zuschauerraum unterstützt, der zwischen zwei Kommodenbeinen funkelnden, unzerstört gebliebenen Brille wieder habhaft zu werden. Übrigens machte Stephan, während er sich an die Handlung dieses seines Lieblingsstücks zu erinnern versuchte, das er so nennen durfte, obwohl er es nur ein einziges Mal mit mancherlei Behinderungen gesehen hatte, die Erfahrung, daß er über ein logisches und über ein sinnliches Gedächtnis verfügte. Das letzte hatte sich den ganzen Abend so köstlich
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