Das Bett
wirkte Wunder. Kenner hatten sich Monsieur de Lorde zugewandt und applaudierten auch in seine Richtung. Er lächelte entzückt und wehrte mit eleganten Handbewegungen den Beifall ab. Sein rosiges Haupt schwebte als Frühlingsmond in der Menge und zeigte die Miene gelöster und friedfertiger Bonhomie, und seine Begleiterin setzte ein hinreißendes Strahlen auf ihren dunkelroten Mund und klatschte mit kleinen Pritschelgeräuschen in sein Ohr, während sie sich nach allen Seiten umsah und von überall her Winken und Grüße entgegennahm und mit Kopfnicken beantwortete.
Welche Wirkung hätte die Schilderung dieses zweiten Aktes wohl auf meine Tante gemacht? Leider sollte sie nichts davon |313| vernehmen. Stephan fand nicht den rechten Einstieg, um seine Erzählung fortzusetzen. Die Frage meiner Tante: »Was war schlimm?« entlockte ihm keine Antwort, obwohl sie sich doch als Brücke zu einer Fortsetzung geradezu anbot. Seine Kehle war zugeschnürt, sein Herz raste, er platzte fast vor Angst. Plötzlich glaubte er, daß er meiner Tante niemals wieder in die Augen sehen könne. Die winzige Bewegung seiner Lider, die seine Augen mit ihren Augen verbunden hätte, kam ihm unmöglich vor. Er sehnte sich danach, daß die Zeit für immer stillstehe. In der Anspannung des Willens, meine Tante nicht anzusehen, verpaßte er die Unwillkürlichkeit eines Reflexes, der seine Augenlider hob, was er willentlich nicht fertigbekommen hätte. Er sah die runden braunen Augen meiner Tante auf sich ruhen, in gesammelter Ruhe, er sah ihren halbgeöffneten Mund, und er spürte den Duft ihres unverdorbenen Atems. Plötzlich erkannte er, daß sie weinte, und zwar wie er es niemals vorher erlebt hatte: Sie schluchzte nicht, sie verzerrte ihr Gesicht nicht, sie atmete nicht schwer, nicht einmal die Augen waren auffällig gerötet, aber über ihre Wangen floß still und stetig ein Tränenstrom, der sie wie mit einer glitzernden hauchdünnen Eisschicht überzogen erscheinen ließ. Nach einer Weile beugte sich Stephan vor und verschloß ihren halbgeöffneten Mund mit dem seinen.
Dieser erste Kuß, in dem sich jeder Gedanke der beiden einzig auf ihre Münder richtete, ohne ein weiteres Gefühl von Zärtlichkeit oder Schmerz aufkommen zu lassen, führte dazu, daß sie die kleine, immer noch leere Konditorei verlassen mußten, weil die Besitzerin sich plötzlich mit Scheppern und Klappern hinter der Theke bemerkbar machte, was Stephan herumfahren ließ und ihm die Ruhe raubte. »Laß uns hier weggehen«, sagte er zu meiner Tante, und meine Tante, die ihre Tränen nachlässig mit dem Ärmel ihrer Kostümjacke trocknete, antwortete: »Wie du willst.«
|315| Dritter Teil
FLORENCE
|317| I.
Florence konnte nach der Entführung meiner Tante mit sich zu frieden sein, und sie träumte davon, sich jetzt, bevor sie Stephan auf die unmittelbare Abreise vorbereitete, noch ein wenig hinzulegen. Schon standen ihre Lackschuhe wie zwei gehorsame Lakaien in blitzender Livree nebeneinander unter dem Hotelbett. Florence hatte ihr Kleid geöffnet und auch ihrem Gesicht gestattet, sich in den Zustand ausdrucksloser Entspannung zu begeben. Da klingelte das Telephon, und sie wußte augenblicklich, daß von nun an kein Gedanke mehr an Ruhe zu verschwenden war. Alles, was sie in Frankfurt beschäftigte, war Kinderei gegen das, was sie nun erwartete. Es war gut, daß das Telephon klingelte und sie an ihre Pflicht und an ihr Leben erinnerte.
Wie sie tatsächlich zu Dr. Tiroler stand, war ihr erst wenige Tage vor ihrer Reise nach Frankfurt klargeworden. Sonderbar genug war diese späte Erkenntnis, denn es hatte in ihrem Verhalten genug Hinweise für die allmähliche Änderung ihrer Beziehung zu ihm gegeben, die, so unauffällig sie jedem Dritten erschienen waren, ihr selbst doch nicht ernsthaft verborgen geblieben sein konnten. Aber wenn sie ehrlich war, und Florence hätte sich keine langweiligere Beschäftigung vorstellen können als die, sich selbst zu belügen, dann mußte sie sich gestehen, daß sie beschämend lange ihren eigenen Empfindungen wie eine Fremde gegenübergestanden hatte. Je sorgfältiger sie sich zu erinnern versuchte, desto unangenehmer fühlte sie, daß zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich noch vollständig ahnungslos glaubte, ausgerechnet Willy eine für ihn neuartige Befangenheit seiner Frau |318| ausgeschnuppert hatte, die er vielleicht noch nicht deuten konnte, die er sich jedoch mit der ganzen Infamie der Schwachen zunutze machte, um Florence zu
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