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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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eine unbestimmte Ahnung befiel sie und verließ sie bald wieder. Als der Vater aber zum zweitenmal auf ihre Brüder zu sprechen kam, ereignete sich in Florence eine kleine Explosion. Sie sah ihre Brüder im Bubenalter vor sich, wutschnaubend einander gegenüberstehend, wie die Boxer tänzelnd, um eine Position zu finden, die sich zum Losschlagen eignete. Sie fühlte, wie ihre Angst aufstieg, die Angst vor dem Geräusch des Aufschlagens einer geballten Faust im Gesicht eines Menschen, und plötzlich überfiel sie mit schneidender Klarheit die Gewißheit, daß die Peinlichkeit, die für sie von den Worten ihres Vaters ausging und die sie fast tötete, und die Angst, in die sie die Brutalität der Brüder früher versetzt hatte, aus derselben Wurzel kamen, oder anders gesagt, die beiden Seiten derselben Medaille waren. Sie spürte körperlich die Kongruenz der beiden Empfindungen, das war ein Gefühl, das ebenso wohltat wie der Schmerz, der unter den Händen eines geübten Masseurs entsteht.
    |343| Diese Entdeckung sagte genaugenommen wenig aus, sie erklärte nichts. Die Qualen der Peinlichkeit, die Herr Gutmann seiner Tochter während seiner Rede bereitete, und die Qualen der Angst, die ihre Brüder ihr, ohne sich für diese Folge zu interessieren, einst zugefügt hatten, waren gleich heftig; daß sie eng miteinander verwandt waren, änderte nichts am Grad der Verletzung, die sie zufügten. Und doch bewirkte diese Einsicht in Florence ein kleines Wunder. Ihr Vater schwätzte weiter, nicht weniger hemmungslos als zuvor, aber sie ertrug es auf einmal in einer abwesenden Ruhe, aus der sie erst am Ende des zum Glück lange währenden Diners erwachte.
    Leider vergaß Florence dies Ereignis bald wieder, weil ihr Verstand an dem Grauen der Lage nicht das geringste hatte ändern können. Sie hätte sich sicherlich auch hartnäckig gegen idealistische Deutungen dieser Beruhigung des aufgewühlten Meeres gewehrt. Wer ihr von der heilenden Kraft der Wahrheit gesprochen hätte, wäre von ihr nicht mehr recht ernst genommen worden. Florence sperrte sich gegen ihre Leiden ebenso wie gegen die Befreiung davon. Sie empfand jeden Schmerz als Monstrosität, und das war auch der Grund, warum sie weder ihren Brüdern noch ihrem Vater jemals irgend etwas wirklich übelgenommen hatte. Für sie war Verletzlichkeit ein Makel, der verborgen und überwunden werden mußte, der aber niemals ein Recht zur Anklage verlieh.
    Es hatte sie wenig Mühe gekostet, Willy zu überzeugen, daß es an der Zeit sei, das Ehepaar Tiroler einmal zum Essen einzuladen. Willy war freilich nicht begeistert von der Vorstellung, mit dem behandelnden Arzt seines Sohnes einen Abend verbringen zu müssen. Inzwischen hatte er sich an Tirolers Erscheinung aber schon ein wenig gewöhnt. Vor allem die Eröffnung der Ausstellung im Museum of Modern Art, in der Tiroler eine glänzende Rolle gespielt hatte und bei der die neugierigen Blicke zahlreicher fescher Gäste auf der engen Gruppe um Tiroler, bestehend aus Mrs. Tiroler, den Korns und dem Direktor des Museums, einem umgetriebenen österreichischen Aristokraten, der mit Willy Korn deutsch sprach, hängengeblieben waren, hatte nicht |344| verfehlt, auf ihn Eindruck zu machen. Dem Referat Henry Tirolers große Aufmerksamkeit zu schenken, konnte er sich nicht entschließen. Er hatte das Gefühl, daß Tiroler, mit wissenschaftlichen Ausdrücken bewaffnet, ziemlich unanständige Sachen sagte, und wunderte sich darüber, daß Florence, in deren Gegenwart sonst kein zweideutiges Wort fallen durfte, nicht wenigstens die Augenbrauen hochzog.
    Die Hochachtung, mit der Mr. Fraudendorff, der Museumsdirektor, nach der Ansprache mit Henry Tiroler umging, machte Willy dann stutzig. Überhaupt entzückte ihn Mr. Fraudendorff über die Maßen. Zum erstenmal fühlte sich Willy Korn in New York als Deutscher nicht fehl am Platz, denn die freudige Überraschung, die sich auf dem Gesicht des Direktors malte, als er Willys katastrophalen Akzent vernahm, hatte etwas unbedingt Einnehmendes für den begeisterten Großstädter Willy, der dennoch unter dem ständig drückenden Gebot des Kosmopolitismus gelegentlich stöhnte und dem nichts willkommener war als ein arrivierter New Yorker, der bewies, welche Kraft in der Provinz steckte, weil sie es war, die ihm die Energie für die Karriere mitgegeben hatte. Bei Mr. Fraudendorffs Wirkung war natürlich seine splendide Familie nicht zu vergessen, deren Unbekanntheit in der Neuen Welt ihren Glanz nicht

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