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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Fluch. Herr Gutmann geriet nämlich nunmehr ins Plaudern. Er erfreute sich und seine Zuhörer mit einer langen Aufzählung der »entzückenden Aussprüche aus Kindermund«, die Florence frühreif und possierlich angeblich von sich gegeben haben sollte. Angesichts des doch recht ernst geratenen ersten Teils der Rede empfand das Publikum den Umschlag der Atmosphäre als befreiend. Die Leute lachten wieder und zeigten auf Florence, die mit versteinertem Lächeln der Tafel präsidierte und sich mit dem Serviettenzipfel diszipliniert die Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe wegtupfte.
    Zu der Pein, die sie litt, war ihr die Erweckung solcher Kindererinnerungen eine besondere Qual, ganz unabhängig von der Rede ihres Vaters. Selbst vermied sie grundsätzlich, ihre Gedanken auch nur in die Nähe ihrer Kinderzeit schweifen zu lassen; und sie versuchte auch alle andern daran zu hindern, das Thema darauf zu bringen. Florence spürte nicht die geringste Rührung beim Anblick eines kleinen Kindes. Wieso sollte etwas Unfertiges, Unentwickeltes, Rudimentäres schon zu besonderer Liebeswallung anregen? Der fertige Mensch erst war für sie ein Mensch. Die Hilflosigkeit der Kinder erinnerte sie an nichts als an die der |339| Verstümmelten und der Schwachsinnigen, die sie ebenfalls nicht als Hochform entwickelter Menschlichkeit feierte. Sie fühlte noch die ganze heiße Scham ihrer Kinderzeit, in der ihr kindliches Gemüt, das in seiner Entwicklung hinter ihrem frühreifen Verstand zurückgeblieben war, ihr so manchen demütigenden Streich gespielt hatte. Sie dachte daran, daß sie sich in ihrer Kindheit wie eine Gefangene in einem hassenswert schwachen kleinen Körper und in ihrer Naivität und Unerfahrenheit vorgekommen war. Für ein intelligentes Kind, wie sie es war, mußte die Kinderzeit eine Leidenszeit sein, die einen lebenslangen üblen Geschmack hinterließ, wenn man auf sie zurückblickte. Größerer Gleichmut, eine mühsam erkämpfte Souveränität vermochten die Schande dieser Kindertage langsam in kälterem Licht erscheinen zu lassen. Aber wie man zur Verschönerung hoher Festtage auf den erbärmlichsten Teil des Menschenlebens auch noch triumphierend mit den Fingern zeigen konnte, blieb ihr ein Rätsel, das sie in dem Respekt, den sie dem Vater schuldete, ungelöst auf sich beruhen lassen mußte.
    »Florence«, sagte der Vater, dem die Ammen- und Milchstubengeschichten ausgegangen waren, »und jetzt bist du eine schöne, stolze Frau, und da gehst du nun fort und läßt deinen Vater allein zurück, der sich eben noch voller Liebe am Ebenbild unserer von uns allen abgöttisch geliebten Mami erfreut hat, wie sie es mir an ihrem Todestag vorausgesagt hat. Aber selbst wenn es dir ebenso schwerfällt wie mir, dich scheiden zu sehen – Florence, mein süßes Kind, es muß sein! Ich, der ich weiß, welches Opfer es mich kosten wird, ich würde dich selbst notfalls sogar zu diesem Schritt zwingen, denn er ist das Los des Menschen, der sich aus einem entzückenden Kind zur Frau entwickelt hat. Du mußt nun Glied der Kette werden, die nicht abreißen soll bis zum Ende der Welt. Und außerdem, geliebtes Kind, kannst du ja immer wieder zurückkommen, wenn es dir richtig zu sein scheint.«
    Dies war wieder einer der Gedanken, die nicht im Manuskript gestanden hatten, der aber Herrn Gutmann die zwingende Ergänzung zu dem ewigen Auftrag an das Weib zu sein schien, den |340| er soeben geschildert hatte, der für eine Gutmann aber unvollständig formuliert war. Daß eine Gutmann, nachdem sie dem Manne nachgefolgt war, wie es der Schöpfer wollte, mit den Zuständen, die sie bei ihm vorfinden würde, auf alle Zeiten zufrieden sein sollte, war jedenfalls so lange Unsinn, wie ihr eigener Vater, der besser wußte, was sie zum Glücklichwerden brauchte, noch lebte. Und leider war es nicht unwahrscheinlich, daß das Kind in der Fremde nicht glücklich wurde, denn dazu hätte es weiß Gott anderer – in diesem Augenblick fiel Herrn Gutmann Willy ein, und es wurde ihm klar, daß er noch gar nichts über ihn gesagt hatte, und das war ja schließlich der Bräutigam, ein etwas schwachbrüstiger, mit komischem Akzent zwar, aber heute jedenfalls der Mann, und er wollte nicht zu früh beginnen, Willy Gewißheit darüber zu spenden, daß dies wahrscheinlich auch der letzte Tag sein würde, an dem er das Männchen spielen durfte. »Mein Herz«, sagte Herr Gutmann, »da ziehst du also nach Frankfurt, weit weg von uns allen hier, und obwohl du schon ein

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